Das Wagnis, ein Einzelner zu sein. Michael Heymel
Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Das Wagnis, ein Einzelner zu sein - Michael Heymel страница 11

Название: Das Wagnis, ein Einzelner zu sein

Автор: Michael Heymel

Издательство: Bookwire

Жанр: Документальная литература

Серия:

isbn: 9783290177300

isbn:

СКАЧАТЬ ein Sinnentrug. In Wirklichkeit bestehe zwischen dem Christentum des Neuen Testaments und dem, was heute Christentum genannt werde, eine ungeheure Kluft. Man meine, Bewunderer Christi seien Christen. Doch wahre Christen könnten nur Nachfolger sein, die ihr Leben von Christus umformen lassen.53

      Vier Jahre später, im Januar 1854, starb der alte Bischof Mynster. Als nun Professor Martensen, der als aussichtsreicher Nachfolgekandidat galt, im Februar eine Gedenkrede hielt, in der er den verstorbenen Bischof als ein Glied in der »Kette der rechten Wahrheitszeugen« lobte, da erhob Kierkegaard Einspruch: Ein solcher Titel sei dem Wesen des Christentums zuwider. Er veröffentlichte seinen Artikel jedoch erst im Dezember 1854, nachdem Martensen das Bischofsamt übernommen hatte. Wie zu erwarten stand, antwortete Martensen entrüstet und warf Kierkegaard vor, er sei pietätlos und kenne nur ein Christentum ohne Kirche und ohne Geschichte. Die Frage, ob Mynster ein Wahrheitszeuge im Sinne des Urchristentums gewesen sei, wies Martensen als unzulässig zurück. Daraufhin ging Kierkegaard zu einem Angriff auf die dänische Staatskirche über, der an Schärfe alle bisher von ihm geübte Kirchenkritik übertraf. In Flugblättern unter dem Titel »Der Augenblick« griff er »nun den gesamten Pastorenstand an, weil |42| Martensen mit Mynster den ganzen Stand in den Rang des Wahrheitszeugen erhoben« habe.54 Das trug Kierkegaard prompt den Vorwurf der Schwärmerei und das Urteil ein, er stehe außerhalb der Kirche Christi. In den folgenden Flugblättern reagierte er mit einem unerhörten Einspruch gegen das Bestehende. Er warnte den Leser, am öffentlichen Gottesdienst teilzunehmen. Wer fernbleibe, lade eine große Schuld weniger auf sich und beteilige sich wenigstens nicht daran, Gott zum Narren zu halten. Die verbürgerlichte Kirche rechne nur mit der Masse, da sie möglichst viele brauche, um bestehen zu können, während das Christentum immer den Einzelnen meine. Das Interesse des Christentums ziele auf wahre Christen. Die Pastoren sieht Kierkegaard als die Hauptschuldigen, die mit staatlicher Protektion das Christentum vereiteln: »Der Egoismus des Pastorenstandes zielt ab auf die vielen Christen …«55

      In der zehnten Nummer des »Augenblicks«, die nicht mehr veröffentlicht wurde, erkennt Kierkegaard Sokrates als die einzige Analogie an, die es für ihn gebe. Worin besteht für ihn die Parallele zu seiner eigenen Aufgabe? Sokrates musste die vermeintlich Wissenden ihrer Unwissenheit überführen, indem er als der einzige Unwissende unter ihnen auftrat. »Kierkegaard muss als der einzige bewusste Nichtchrist, wie er sich selbst nennt […,] die Christenheit dessen überführen, dass ihr vermeintliches Christentum keines ist.«56 Wenige Tage später bricht er auf der Straße zusammen. Man bringt ihn ins Krankenhaus, wo er fünf Wochen später stirbt.

      Sein Wirken als Autor erreichte im Kirchenstreit seinen Höhepunkt. Erst vier Jahre nach seinem Tod erschien die bereits 1849, also lange vor dem Kirchenstreit verfasste Schrift »Der Gesichtspunkt für meine Wirksamkeit als Schriftsteller«, eine Art Generalbeichte, die Kierkegaard unter seinem eigenen Namen ablegt und mit der er sich zu seinen pseudonymen Schriften bekennt. Im Rückblick formuliert er das Anliegen, das er mit seinem ganzen Werk verfolgt habe. Er wolle darin »ohne Vollmacht auf das Christliche aufmerksam machen«.57 Hier hat jedes Wort Gewicht. Ohne Vollmacht, d. h. als Theologe, der zwar das Examen und den Doktorgrad (= Magister) erworben habe, aber nicht die Autorität des ordinierten Pfarrers geltend machen könne, will Kierkegaard auf das Christliche aufmerksam machen, das durch Offenbarung von Gott selbst mitgeteilt und autorisiert ist, mit göttlicher |43| Autorität verkündigt wird und vom Einzelnen geglaubt werden soll. Daher interessiere ihn, wie ein Mensch sich die Wahrheit seiner Existenz, die ihm in Christus mitgeteilt wird, persönlich aneignen könne. Sein ganzes Werk sei bezogen auf das Problem Christwerden, d. h. auf die Frage, wie ein Mensch Christ wird.

      Kierkegaard hat, übereinstimmend mit der lutherischen Orthodoxie, vom Pfarramt sehr hoch gedacht58 und stets daran festgehalten, dass nur ein ordinierter Prediger die Vollmacht habe, das Evangelium als von Gott autorisierte Botschaft zu verkündigen. Vollmacht ist für ihn »die spezifische Qualität entweder einer apostolischen Berufung oder der Ordination«.59 Ohne Vollmacht könne ein Mensch nicht mehr für den anderen tun, als ihn auf die in Christus begegnende Existenzwahrheit aufmerksam zu machen, weil – wie in Orientierung an Sokrates zu betonen ist – jeder nur bei sich selbst Wahrheit zu realisieren vermag.

      In diesem Überblick über Kierkegaards Gesamtwerk habe ich zu zeigen versucht, weshalb es sinnvoll ist, diesen Autor nicht als Philosoph, sondern als religiösen Schriftsteller der Moderne zu begreifen, dessen Werk sich als ganzes dem zurechnen lässt, was man mit einem heute erklärungsbedürftigen Wort »Erbauungsliteratur« nennt. Da Kierkegaard mit der biblisch-christlichen Überlieferung sehr unkonventionell umgeht und sie literarisch, philosophisch und theologisch hochreflektiert verarbeitet, ist seine Form von Erbaulichkeit entsprechend mehrdeutig,60 wie seine Texte sich überhaupt dagegen sperren, auf ein Schema festgelegt und bloß auf einer einzigen Bedeutungsebene gelesen zu werden. Das macht Kierkegaard gerade zu einem modernen religiösen Schriftsteller, aufregend modern und religiös. Aus der Darstellung wurde deutlich, dass sich aus der Chronologie und der Einteilung der Werke nach Textsorten einige Argumente für diese Zuordnung ableiten lassen. Es entspricht nicht gerade den bei deutschen Theologen üblichen Lesegewohnheiten, Kierkegaard als einen Schriftsteller zu lesen, dem es sowohl in seinen erbaulichen Reden wie auch in seinen pseudonymen |44| philosophischen Schriften um Probleme der christlichen Verkündigung und ihrer individuellen Aneignung unter Bedingungen der Moderne geht. Aber in der Kierkegaard-Rezeption gab es schon früh Ansätze dazu.

      Einen Vertreter dieser Lesart, der in Deutschland wenig bekannt ist, will ich zum Schluss mit einem Zitat vorstellen: »Obwohl seine Schriften oft glänzend poetisch und oft tief philosophisch sind, war Kierkegaard weder ein Poet noch ein Philosoph, sondern ein Prediger, ein Ausleger und Verteidiger christlicher Lehre und christlicher Lebensführung.« So charakterisiert der englische Schriftsteller Wystan Hugh Auden (1907–1973) Kierkegaard. Wie viele polemische Autoren habe Kierkegaard das Schicksal erlitten, auf die falsche Weise oder von den falschen Leuten gelesen zu werden. Man müsse ihn, so meint Auden, als Prediger für Gläubige lesen. Die Aufgabe eines christlichen Predigers sei es, »erstens die christlichen Gebote zu bestätigen und das Bewusstsein der Sünde zu wecken und zweitens die Beziehung des Einzelnen zu Christus wirklich, d. h. heutig oder gleichzeitig zu machen«.61 Genau das hat Kierkegaard mit Leidenschaft getan.

      Michael Heymel

       |45|

      1 Der Streit des Gebets (1844)

      A »Der rechte Beter streitet im Gebet und siegt – dadurch, daß Gott siegt«62

      Mein Leser, hast Du nie mit einem Menschen gesprochen, der an Weisheit weit überlegen Dir doch wohlwollend war, ja mehr oder doch besser (und also mehr) um dein Wohl bekümmerter als du selber; hast du das nicht, nun so bedenke wohl, was dir oder mir begegnen könnte, wie ich es nun darstellen will.

      [Streit mit einem Weisen – ein Gleichnis]

      Sieh, am Anfang waren wir ganz uneinig; was der Weise sagte, kam mir wie eine sonderbare Rede vor; doch hatte ich das Vertrauen zu ihm, daß er seine Überlegenheit nicht missbrauchen würde, sondern sich überzeugen lasse und selbst mir zur Beseitigung des Missverständnisses behilflich wäre. So sprachen wir da miteinander und wechselten manches Wort im Streit der Rede. Der Weise muß die Übersicht vermutlich sich bewahrt haben, denn er blieb ruhig, während ich, ohne recht zu merken, wie und ohne mich darüber zu schämen, dabei fast heftig wurde, weil es mir so wichtig war, daß der Weise meine Ansicht teilen sollte, daß ich sie ohne die Einigkeit mit ihm nicht hätte festhalten dürfen – wohl aber ihn angreifen, um ihn zur Einigkeit zu bewegen. Und musste mich dies nicht auch heftig machen, denn das war ja ein Selbstwiderspruch, auf tückische Art durch meine Tüchtigkeit (als sei ich der Stärkere) den Weisen für meine Meinung gewinnen zu wollen, und dann erst recht wieder von der Richtigkeit der Meinung überzeugt zu sein im Vertrauen darauf, daß es die Meinung des Weisen sei, da er ja der Stärkere war; denn dies Vertrauen hatte ich doch beständig zu ihm, und СКАЧАТЬ