Название: Die wichtigsten Musiker im Portrait
Автор: Peter Paul Kaspar
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
Серия: marixwissen
isbn: 9783843802147
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Das 19. Jahrhundert wurde zum Jahrhundert des deutschen Liedgesangs: Beethoven, Schubert, Mendelssohn, Schumann, Brahms, Hugo Wolf – allesamt unter zunehmender Bedeutung der Dichtkunst, fortgesetzt mit Gustav Mahler und Richard Strauss. Anstelle der früher eher farblosen Gelegenheitsdichtung kam nun häufiger hochwertige Poesie zu Wort. Das Klavierlied boomte. Weder vorher noch nachher hatte die von einem einfachen Tasteninstrument begleitete Singstimme so viel hochwertige Kompositionen zur Verfügung. Es ist jedoch nicht so sehr Musik für den großen Konzertauftritt, sondern mehr für die Intimität eines kleineren oder mittleren Kreises – Salonmusik im guten Sinn als eine erste Bereicherung im Repertoire der bürgerlichen Musikkultur.
Es hat eine gewisse Logik, dass im häuslichen Musizieren außer dem Lied und der Klaviermusik in nicht allzu schweren Sonaten, den beliebten Charakterstücken und kleinen Zyklen, auch das mehrstimmige Singen gepflegt wurde. Das Soloquartett, sowohl für vier Männer- oder Frauenstimmen als auch für gemischte Stimmen: Sopran, Alt, Tenor und Bass, war sozusagen die heimische Keimzelle für die spätere Chormusik. Da das häusliche Musizieren eine Schulbildung und einen gewissen Wohlstand voraussetzte, kam es erst in der Biedermeierzeit und Frühromantik zu dieser für den einfachen Bürger neuartigen Musikpflege. Die – etwa von Schubert – neu komponierten Stücke für vier Singstimmen, mit oder ohne Klavierbegleitung, bildeten zugleich mit der Pflege im Salon den Grundstock für die eben entstehenden Bürgerchöre, Gesangvereine und Liedertafeln.
Das Chorwesen hatte im 19. Jahrhundert seinen Höhepunkt: Die Chöre trafen sich regelmäßig in den größeren Städten zu Sängerfesten mit Tausenden Teilnehmern und Aufführungen in den eben entstandenen Konzertsälen, aber auch in Kathedralen und im Freien. Die Chöre verstanden sich nicht nur als musikalische Ensembles, sondern auch als Vereinigungen zur Geselligkeit und zur Standespflege. Männerbündische Vereine mit ausgiebiger Stammtischpflege gab es ebenso wie Kirchen-, Damen-, Schul- und Knabenchöre. Das Männerchorwesen ist heute beinahe ausgestorben – Knabenchöre gibt es fast nur noch an Internatsschulen oder traditionsreichen Institutionen. Die besten Komponisten schufen für diese Chöre gute Musik: sowohl im vermeintlich alten, jedoch tatsächlich neuen romantischen A-cappella-Stil, als auch mit Klavier- und Instrumentalbegleitung, große Werke sogar für Soli, Chor und Orchester.
Älter als auf dem europäischen Festland ist die Chorpflege in Großbritannien. Dort entstanden bereits im 18. Jahrhundert Laienchöre von beachtlichem Können, dort gab es auch seit Purcell und Händel die Werke und die Ambitionen für große Aufführungen – etwa des Messias, widmungsgemäß zu wohltätigen Zwecken. Haydns und Mendelssohns Aufenthalte in England, ihre großen oratorischen Werke und ihre Erfolge in diesem Land, hängen ebenfalls mit dieser Tradition zusammen. Die dort in den größeren Städten entstandenen bürgerlichen Konzertsäle waren auch mit Orgeln für solche Zwecke ausgestattet. Diese traditionsreiche Chormusikpflege reicht über Elgar und Britten bis in die Gegenwart.
Der Chorgesang ist jene Gattung, in der sich demokratische Prinzipien am ehesten verwirklichen: Der Chorleiter dirigiert eine Schar von sangesbegeisterten Laien, die als einzige Voraussetzungen Musikalität und Lesen, inklusive Notenlesen, mitbringen. Die demokratische Mitbestimmung äußert sich in der Freiwilligkeit: Wenn keine Sänger mehr kommen, endet die Macht des musikalischen Diktators. Und neben dem Singen ist die Gemeinschaftspflege meist ein ungeschriebenes Vereinsprinzip. Die üppigen Choraktivitäten des 19. Jahrhunderts sind seither auf ein schlichteres Maß geschrumpft. Für professionelle Aufführungen sorgen heute halb und ganz professionelle Ensembles und neuerdings Projektchöre, die sich für einzelne Produktionen nach einem Inskriptionsprinzip immer wieder neu formieren.
Menschen, die gern und regelmäßig singen, aber auch jene, die Vokalmusik besonders lieben, berichten häufig, dass ihnen der Gesang eine irgendwie erotische Erfahrung beschert. Man kann dieses Gefühl verstehen, ohne die Amouren der Sängerinnen und Sänger, ihrer Verehrerinnen und Verehrer zu bemühen: Man singt mit dem ganzen Körper, mit Leib und Seele, mit Verstand und Gefühl, als Frau und Mann.
5 CANTIO SACRA
MUSIK UND RELIGION
Wenn man in der Musikgeschichte die religiöse Musik gegen die weltliche abwägt, dann zeigt sich ein eigenartiges Verhältnis: Je weiter wir in der Geschichte zurückgehen, desto größer ist der Anteil religiöser Musik an der Gesamtheit der uns überlieferten Werke. Aus dem Mittelalter wurde fast nur Kirchenmusik überliefert – schließlich waren vor allem Kleriker und Mönche schriftkundig. Weltliche Musik wurde selten aufgezeichnet. Das meiste wurde wohl nach dem Gehör, nach Überlieferungen und im gemeinschaftlichen Musizieren tradiert. Da sich die Kirchenmusik jener Zeit der lateinischen Sprache bediente, konnte sie nicht volkstümlich werden. Sie war in der Zeit der Gregorianik eine hoch entwickelte Spezialistenmusik für sprach- und schriftkundige Musiker geistlichen Standes, die sich zuvor einer jahrelangen Ausbildung unterzogen hatten.
Noch in der Renaissance ist der weitaus größere Teil der aufgezeichneten Musik geistlicher Art. Dieses Verhältnis beginnt sich im Barock auszugleichen und etwa in der Klassik umzukehren. Heute ist die religiöse Musik eine eher schmale Sparte. Heute muss man auch in den Begriffen genauer sein: Im engeren Sinn gehören nur die für den Gottesdienst bestimmten und im Ablauf der Liturgie verankerten Kompositionen zur Kirchenmusik. Daneben gibt es jedoch ein Feld religiöser Musik für andere Bereiche: die große Zahl der Oratorien, die im Umkreis der Kirchen für geistliche, jedoch nicht liturgische Zwecke entstanden, religiöse Opern (etwa »Saint François d’Assise« von Messiaen), religiöse Vokalmusik für häusliche oder konzertante Aufführungen (etwa Schuberts 23. Psalm, vierstimmig mit Klavier), aber auch Cembalowerke mit religiösen Themen (Kuhnaus Biblische Sonaten) und religiöse Klaviermusik (Liszt, Messiaen) und natürlich jene großen Orgelwerke, die den Rahmen des Gottesdienstes sprengen würden.
Das vielleicht berühmteste religiöse Sujet in zahlreichen Vertonungen – vor allem der während der Romantik – hat mit Kirchenmusik überhaupt nichts zu tun: das Ave Maria. Der lateinische Text kommt in dieser Form in der Liturgie gar nicht vor, sondern verdankt als typisch katholisches Gebet zur Mutter Jesu seine Popularität der Gegenreformation und in der deutschen Fassung als »Gegrüßet seist du, Maria« dem Rosenkranzgebet. Die erste Hälfte des Textes entstammt dem Lukasevangelium, die zweite der christlichen Gebetsüberlieferung. Doch führen die beiden bekanntesten Vertonungen, jene von Franz Schubert – eigentlich ein deutsches Klavierlied – und die andere von Charles Gounod – eigentlich eine posthume Enteignung des ersten Präludiums aus Bachs »Wohltemperiertem Klavier« – ein zähes Eigenleben bei Hochzeiten und Begräbnissen. Das ist weder Kirchen- noch geistliche Musik, sondern religiöse Salonmusik und in vielen heutigen Fassungen zur Trivialmusik verramschte Klassik.
Um die Geschichte der christlichen Kirchenmusik in der abendländischen Geschichte von Grund auf zu verstehen, sollte man Folgendes bedenken: Soweit wir wissen, ist Musik in allen alten Religionen eine wichtige Weise zu beten und Gott oder die Götter zu verehren. Als die reinste Form galt aus verständlichen Gründen der Gesang – in ihm ist der Mensch zugleich Spieler und Instrument. Die religiöse Musik unserer Kultur hat jüdische, hellenistische und christliche Wurzeln – aus ihnen entstand die Gregorianik. In den Kirchen des Ostens, in der Orthodoxie und in den katholischen Ostkirchen, beschränkt sich die Kirchenmusik noch immer auf den Gesang. Im Judentum war dies bis ins 19. Jahrhundert ebenso. Erst dann stellte man im Sinn einer kulturellen Anpassung in größeren städtischen Synagogen auch Orgeln auf.
Die Urform der ostkirchlichen Musik für den Gottesdienst war der unbegleitete, schlichte und homophone Gesang von Männerstimmen. Die Herkunft aus dem Mönchstum ist hier noch zu erkennen. Erst langsam werden in den letzten Jahrzehnten auch Frauenstimmen akzeptiert. Zudem ist die Liturgie der orthodoxen und katholischen СКАЧАТЬ