Название: Die Unsichtbaren
Автор: Roy Jacobsen
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9788711449653
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»Du wirs’ nirgendwo bleim«, sagt ihr Bruder und zerrt sie zum Tor und hinaus auf die Straße, wo er stehen bleibt und um Atem ringt, bis Maria und Ingrid sie einholen. Maria mit dem Koffer, sie fragt, was los ist, mit demselben schmerzverzerrten Ausdruck, der am ehesten Trauer gleicht.
»Nichts«, sagt Hans.
Schweigend gehen sie am Laden vorbei, der Einkauf bleibt heute aus, laufen zur Handelsstation hinunter und klettern an Bord. Hans Barrøy bemerkt, dass der Wind auf Südwest gedreht hat und kräftiger bläst. Er setzt das Segel und treibt das Boot mit einem scharfen Manöver hinaus. Dann kommt auch der Regen. Je weiter sie zur Fjordmündung kommen, desto stärker und dichter wird er. Barbro und Ingrid verbergen sich unter dem Schafsfell. Dort hört er sie jedenfalls lachen, und diesmal macht er keine Anstalten, sich vor jemandes Blick zu verstecken, wozu sollte das gut sein, nicht einmal vor den Blicken Marias, die abgewandt vom Regen dasitzt, während das Wasser durch ihre lange braunen Locken trieft, die immer schwärzer und schwärzer werden und flatterndem Seetang ähneln. Und er kann nicht ihr Lächeln entdecken, das sie beide für gewöhnlich rettet.
Bis tief in die Nacht hinein regnet es in Strömen, ein stürmischer Wind hat sich dazugesellt. Widerstrebend dreht er auf West und Nord und wird kälter und schwächer. Es klart auf, und der Regen peitscht nicht länger gegen die Fenster, als Maria die Augen aufschlägt und das leere Bett neben sich bemerkt. Sie streckt die Hand aus und spürt, dass es auch kalt ist.
Sie steht auf und läuft zu Barbro und Ingrid hinein, bittet sie, sich anzukleiden und ihr hinunter in die Küche zu folgen, wo niemand Feuer gemacht hat. Ingrid fragt, was los ist. Maria hat keine Antwort. Sie entzünden ein Feuer und essen zusammen mit Martin, der auch nichts sagt, danach gehen sie hinunter zum Bootshaus, das Boot fehlt, und beginnen, Netze zu flicken, bei geöffneten Türen, damit sie die ganze Zeit gen Norden blicken können, auf Handelsstation und Kirche und Dorf, sie arbeiten schweigend und abwartend und sorgfältig, bis sie endlich das schräge Segel entdecken, das hinauf und hinab wie ein Sägeblatt durch die brausende See schneidet, es ist das Boot, das schließlich zurückstampft, als es Abend geworden ist.
Hans Barrøy lässt das Segel fallen, das Boot trifft auf die Tragrollen und kommt zur Ruhe. Er steigt über die Ruderbänke, beugt sich in die Vorpiek hinunter und greift nach etwas Zappelndem und trägt ein kleines Schwein an Land, das sogleich im weißen Muschelsand umherläuft und quiekt. Es kostete zwölf Kronen, hat nur ein Ohr und auf der Stirn einen schwarzen Fleck, der dem Einschlag einer Kugel ähnelt. Sie können es nennen, wie sie wollen. In einer braunen Tüte hat er Kandiszucker, er reicht sie Barbro, dann geht er ins Bootshaus, holt Simmgarn und fertigt einen Strick für das Schwein, er knüpft eine Schlinge ans Ende und reicht es Ingrid, die dasteht und das Schwein betrachtet, es frisst schon Gras.
»Das machste nich noch mal«, sagt Maria, wendet sich von ihm und dem Schwein ab und geht hinauf zu den Häusern, um das Essen zu bereiten, während auf dem Gesicht ihres Mannes ein Lächeln erscheint, das Ingrid noch nie gesehen hat. Sie spürt, dass die Mutter wütend ist, den Rest des Abends und den ganzen Tag danach. Doch dann geschieht etwas Unsichtbares und die merkwürdige Stimmung ist verschwunden. Das Schwein wird Grützkopf genannt.
7
Die Häuser auf Barrøy stehen in einem schiefen Winkel zueinander. Von oben her sehen sie aus wie vier Würfel, die irgendwer achtlos verstreut hat, dazu gibt es einen Kartoffelkeller, der im Winter zum Iglu wird. Zwischen den Häusern liegen Steinplatten, es gibt Gestelle, auf denen Kleider getrocknet werden, und Graswege führen strahlenförmig nach allen Seiten, aber eigentlich bilden die Häuser einen Keil gegen den Wind, damit sie nicht umgeworfen werden können, selbst wenn sich das ganze Meer über die Insel ergießt.
Niemand kann sich dieses sinnvolle System als eigenes Verdienst anrechnen, es ist das Ergebnis von kollektiver und ererbter Weisheit, erbaut aus teuer erkaufter Erfahrung.
Aber nicht einmal ein historischer Geniestreich kann verhindern, dass sich im Winter eine Flutwelle aus kompaktem Schnee zwischen Wohnhaus und Stall schiebt, durch die sie sich mit Wassereimern und Melkeimern hindurchkämpfen müssen, wenn sie zu den Tieren und wieder ins Haus wollen. Sie nennen diesen Schnee Welle und verfluchen ihn wie nur wenige andere Phänomene, denn die Welle erhebt sich gern dann, wenn die Nerven blank liegen, im Januar und Februar, im Dezember, ja, im März, eine Mauer aus Sulzschnee zwischen Tieren und Menschen, und Schneeschaufeln hilft nichts, auch wenn sie es trotzdem tun, denn alles wird sofort wieder zugeweht. Die Männer schaufeln Schnee, die Frauen schleppen Wasser und Milch, und meistens müssen die Frauen die ganze Runde um Haus und Stall drehen, und das ist eine lange Wanderung, wenn sie sich in den Windböen nicht einmal aufrecht halten können.
Aber die Häuser haben nicht immer so dagestanden wie jetzt, zwischen der Baumgruppe und dem Beerengarten auf dem höchsten Felsrücken, sie standen weiter unten, in einer einige hundert Meter weiter gelegenen Bucht, die Karvika genannt wird. Dort gibt es jetzt nur noch zwei Grundmauern und die von Tang und Sand überdeckten Reste eines Anlegers. Daran denkt im Alltag niemand auf der Insel, sie wissen eigentlich gar nichts darüber, dass dort einst jemand gelebt hat. Doch selbst in einem Leben zu Fuß auf festem Boden gibt es Augenblicke, da man in anderen Bahnen denkt als den gewohnten, und da geht es einem auf, dass es eine Erklärung dafür geben muss, weshalb die Häuser nicht noch immer drüben in der Bucht stehen, wo sind sie geblieben, diese Häuser, und warum stehen sie dort nicht mehr?
Die Erklärung ist mit ziemlicher Sicherheit tragisch, vielleicht ist sie entsetzlich.
Der alte Martin hat hier die längsten Wurzeln, ist die Quelle mit dem höchsten Status, und er hat ja seine Ansichten darüber, warum und wann die verlorene Zivilisation verschwunden ist, es geht hier um seine eigenen Ahnen, und er erinnert sich auch an ein paar Bruchstücke aus seiner Kindheit, einige Bilder und Sätze und Berichte. Aber er ist nicht mehr der Glaubwürdigste unter ihnen, das liegt an seinem hohen Alter und der natürlichen Schwäche, die nicht nur das Gedächtnis verzehrt, sondern auch seltsame Einfälle und Wunderlichkeiten mit sich bringt, die einen alten Mann in den Augen der Jüngeren lächerlich machen, so dass jede Generation ihre eigenen Wege gehen und sich an das erinnern kann, woran sie sich erinnern will. Auch sie führen sicher irgendwohin, diese neuen Wege, schlimmstenfalls in denselben Kreisen, nur dauert es eben noch so lange.
Aber auch wenn sie rein gar nichts über die Ruinen von Karvika wissen oder wenn sie keine Erklärung dafür haben, was einst zwei Häuser waren und jetzt keine mehr sind, haben sie doch Respekt vor den Ruinen. Sie machen einen Bogen darum, die Kinder spielen dort nicht, die Vögel bauen dort kein Nest, nicht einmal die Eiderenten, und die Menschen kommen nicht auf die Idee, sie abzureißen und die Steine für andere Bauten und Grundmauern zu verwenden, zum Beispiel für die, die sich zwischen den Gärten dahinziehen. Lieber suchen sie sich neue Steine, damit die Reste dort wie ein Denkmal oder ein Friedhof stehen können, unheimlich und überwuchert von Brennnesseln und Weidenröschen, und das Gefühl von etwas aussondern, das zu kalt und zu heiß zugleich ist. Wenn man vom Hügel auf die Ruinen hinabblickt, sehen sie aus wie chinesische Zeichen, geschrieben mit zwei verschiedenen Händen. Im Winter sind sie von Schnee bedeckt, dann werden die Zeichen noch deutlicher, vor dem fauligen braunen Gras, ehe auch das Gras weiß wird.
8
Sie haben oft darüber diskutiert: In welchem Zimmer sollen wir schlafen? In dem, das nach Norden schaut, ist es schweinekalt und unerträglich, wenn im Winter der Nordostwind weht, im Sommer aber kühl und angenehm. Und dann ist es so gut wie lautlos, da der Regen in der Regel von Südwesten kommt und einen Höllenlärm macht, sei es nun Sommer oder Winter. Wenn die Sommer ganz besonders feucht sind und sie weder auf dem Boden noch auf Reutern Heu trocknen können, sagt Hans Barrøy: »Na, Mutter, ich glaub jetzt, wir ziehn nach Norden, hier kann man’s doch nich aushalten.«
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