Название: Die Unsichtbaren
Автор: Roy Jacobsen
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9788711449653
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Von da an herrschte ein anderer Ton.
Das merkten auch die anderen.
Sogar Ingrid hat begonnen, sich Unarten einfallen zu lassen. Zum Beispiel will sie sich nicht mit Verboten abfinden, die der Großvater erlässt, und geht stattdessen zur Mutter, die sie dann oft tun lässt, was Martin ihr verbieten will. Zwar geschieht es auch, dass Maria Partei für den Schwiegervater ergreift, dann aber meist willkürlich, so als wäre es ihr schlichtweg einerlei, ob er da ist und irgendetwas sagt oder entscheidet.
Martin hat sich damit abgefunden. Aber er ist zornig geworden. Als er jung war, so wie ein Mann es viele Jahre ist, war er niemals zornig, jetzt ist er es die ganze Zeit. Aber auch darum schert sich niemand. In den Frühsommernächten schläft der Kater auf seinem Bauch, da drinnen in der Kammer. Durch die dünnen Wände können sie ihn schnarchen und den Kater schnurren hören. Das ist lächerlich. Wenn die Eiderente unter der Treppe zum Windfang endlich ihre Eier ausgebrütet und die kleinen Küken den langen Weg zum Meer hinunter geleitet hat, wird der Kater wieder ins Freie gelassen und schläft den Rest des Jahres unter dem Ofen in der Küche, sofern er nicht gerade Mäuse und Vogeljunge jagt.
Bonken, den Kater, ereilte ein tragisches Ende.
Er wurde vom Adler geholt. Es geschah bei der Heuernte. Sie hörten die Schreie, blickten von Heureutern und Rechen auf und entdeckten ihn, einem zerfließenden Tintenfleck ähnelnd, unter den gewaltigen Schwingen eines Seeadlers. Er zappelte und fauchte und schwang die Krallen, und für einen Augenblick glaubten sie, dass er sich losreißen könne. Es gelang ihm auch. Aber erst als er zu fallen begann, merkten sie, wie hoch es war. Sie sahen ihn die Beine ausstrecken, gleich einer Fledermaus, die sich der Flügel bedient, und lotrecht durch die Unendlichkeit stürzen, bevor er plötzlich und ohne jeden Grund mit den Pfoten zappelte, so als wäre er es leid zu fallen und wollte lieber losrennen, doch stattdessen machte er eine halbe Drehung und krachte mit dem Rücken auf den Felsüberhang beim Lofotschuppen.
Das war zu hoch, sogar für eine Katze, sagte Hans. Und so wurde auf der Insel eine Redensart daraus, auf die er immer wieder zurückkam, wenn irgendetwas sogar die Kräfte eines Inselbewohners überstieg.
Ingrid und Barbro begruben den Kater am Rande des Rosengartens und bedeckten das Grab mit einem Herz aus Muscheln. Barbro sang einen Choral. Ingrid weinte. Und ungefähr eine Woche später brachte Hans eine neue Katze mit. Es war ein Weibchen und bekam den Namen Karnot, nach einem Mann, mit dem Hans zur Schule gegangen war und der, wie er meinte, wie eine Katze aussah; sie hatten ihn sogar Katzenmensch genannt, als er noch klein war. Die Katze Karnot war braun und hübsch wie frisch gekochter Süßkäse, graziös und anschmiegsam, und durfte auf dem Küchentisch liegen, wenn die Männer draußen waren. In der Nacht schlief sie am Fußende von Ingrids Bett. Sie nannten sie eine Tageskatze, weil sie genauso lange und zur selben Zeit wie die Menschen schlief. Aber auch Karnot musste drinnen bleiben, wenn im nächsten Frühjahr die Eiderente angewatschelt kam, um ihr Nest unter der Treppe zum Windfang zu richten. Die Eiderente ist ein heiliges Tier.
12
Der Winter beginnt mit einem Sturm. Der wird Der Erste Wintersturm genannt. Es hat auch vorher schon Stürme gegeben, zum Beispiel im August und im September, plötzliche und erbarmungslose Umstürze im Dasein.
Aber die dauern meistens nicht lange, und in einem von ihnen geht das Laub verloren. Es gibt, wie gesagt, nicht viele Bäume auf der Insel, aber es herrscht kein Mangel an Beerensträuchern und Zwergbirken und Weiden, die im Spätsommer gelbe Blätter bekommen, welche dann in wechselndem Tempo braun und rot werden, so dass die Insel für einige Tage im September einem Regenbogen auf Erden ähnelt. Und so sieht sie aus, als ein plötzlicher Sturm über sie hereinbricht und die Farben ins Meer reißt, und Barrøy in ein braunes, fiependes Pelztier verwandelt, das die Insel bis zum nächsten Frühling bleiben wird, falls sie bei Schneegestöber oder liegendem Schnee nicht aussieht wie eine weißhaarige Leiche, oder der verzaubernde Schnee kommt und verschwindet und wiederkommt und sich in Schneewehen ablegt, wie um das Meer an Land nachzuahmen. Aber sie haben auch solche Stürme schon erlebt, sie können sich sogar an den vorigen erinnern, im vergangenen Jahr.
Der Erste Wintersturm dagegen, der ist etwas ganz anderes.
Er ist jedes Jahr von Neuem gewaltig und kommt mit tiefem Ernst, so einen Sturm haben sie noch nie erlebt, auch wenn es im vergangenen Jahr genauso war. Von hier stammt der Begriff seit Menschengedenken, sie haben nämlich vergessen, wie es war, da ihnen doch nichts anderes übrig blieb, als die Hölle nach besten Kräften durchzustehen und sie sich dann so schnell wie möglich aus dem Gedächtnis zu schütteln.
Jetzt haben sie einen Sturm über sich, der seit mehr als vierundzwanzig Stunden mit unverminderter Stärke wütet, mit Schaumflocken, die wie gelbe Wollbäusche über die Insel fegen, mit Regen, so hart wie Hagel, und mit einer Springflut, die sich einfach nicht wieder legen will. Hans ist dreimal draußen gewesen und hat auch das angepflockt, von dem er nicht geglaubt hätte, dass man es anpflocken könnte. Er hat gesehen, wie ein Schaf ins Meer geweht wurde, ehe er die übrigen in den Bootsschuppen schaffen konnte, sie haben noch nicht geschlachtet und nicht für alle ist Platz im Stall, und im Schuppen pflockt er sie an dem Boot an, das er noch dazu vertäut, es ist lächerlich, worauf ein Mann so alles verfällt, wenn der Erste Wintersturm über ihn hereinbricht.
Er hat auch den Brunnendeckel mit Pardunen gesichert, dafür hat er mehrere Stunden gebraucht. Und dann muss er die neuen Dachrinnen einsammeln, die auf dem Boden verstreut liegen, und schwere Steine darüber wälzen, ehe er wieder nach Hause kriechen kann, und inzwischen ist er so triefnass und fremd im Gesicht, dass Ingrid ihn nicht wiedererkennt.
Sie mag diese Stürme nicht, mit dem Knacken im Haus und den Trompetenstößen im Schornstein, das ganze Universum in Aufruhr, der Wind reißt ihr die Luft aus der Lunge, wenn sie mit der Mutter in den Stall geht, er treibt das Wasser aus ihren Augen und fegt sie gegen Wände und gekrümmte Bäume und zwingt die Familie, in Küche und Wohnzimmer zu schlafen, wo sie dann doch kein Auge zumachen können. Sogar Martin sitzt still, wenn der Wintersturm mit seiner Insel wütet. Er hat die Mütze auf dem Kopf und die riesigen Hände wie leere, bewegungslose Schalen auf seinen Knien liegen, wenn er sie nicht um Ingrid legt, die zwischen ihm und Tisch und Herd und Speisekammer hin und her läuft und auf dem Torfkasten sitzt und die Beine baumeln lässt, ehe sie zum Großvater zurückläuft und mit seinen Händen herumspielt wie mit einem Teddybären.
Die Gesichter der Erwachsenen sind in Stein gehauen. Sie flüstern und werfen verstohlene Blicke und versuchen zu lachen, durchschauen ihr eigenes Theater und werden wieder ernst, denn die Häuser auf Barrøy stehen zwar noch, aber das ist kein Beweis für etwas anderes als den gestrigen Tag, und einmal standen in Karvika Häuser, aber das tun sie jetzt nicht mehr.
Vor allem ist es schlimm, den Vater anzusehen. Wenn Ingrid es nicht besser wüsste, hätte sie glauben können, dass er Angst hat, aber das hat er nie. Ein Inselbewohner hat niemals Angst, dann kann er doch nicht hier wohnen, sondern muss Sack und Pack nehmen und umziehen und wie alle anderen in einem Wald und einem Tal wohnen, das ist eine Katastrophe, ein Inselbewohner ist düster gestimmt, nicht starr vor Angst, sondern vor Ernst.
Der Ernst will sich auch erst legen, nachdem das Familienoberhaupt noch einmal draußen war und mit Blut im Gesicht hereinkommt und mit einem Grinsen sagt: »Is ja bloß gutes Wetter.«
Sie brauchen einen Moment, um zu begreifen, dass das ein Witz sein soll, und als sie ihm das Blut abgewischt haben und sehen, dass es nur eine Schramme am Kinn ist, und als er um Kaffee bittet und sagt: »Die alte Eberesche lehnt sich ein bisschen nach Osten«, da begreifen sie, dass der Wind sich auch dieses Mal vom entsetzlichen СКАЧАТЬ