Die Unsichtbaren. Roy Jacobsen
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Название: Die Unsichtbaren

Автор: Roy Jacobsen

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9788711449653

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СКАЧАТЬ style="font-size:15px;">      »Wo hasse das denn gelernt?«

      »Bei Mama.«

      »Mama is wohl etwas etepetete. Das sind wir aber nich, oder?«

      Sie steckt zwei Finger in den Mund und überlegt.

      »Die Möwen sind hungrig«, sagt er.

      Sie rammt die rechte Hand in den Bauch des größten Köhlers, reißt die Eingeweide heraus und hält sie mit Abscheu im Blick empor. Er rudert von einem Fischgrund zum anderen, während sie die Eingeweide über die Reling wirft und den Möwen dabei zusieht, wie sie sich auf die Reste stürzen und fressen und einander in einer Art Wirbel um Leben und Tod bekämpfen. Sie presst die Hand in den nächsten Fisch, wirft den Vögeln die Eingeweide zu, schließlich folgt der letzte, dann beugt sie sich über die Reling und spült die Fische einen nach dem anderen aus und legt sie nebeneinander auf die Planken, den größten nach Steuerbord, den mittleren in die Mitte und den kleinen nach Backbord. Danach wäscht sie sich lange und gründlich die Hände, der kindliche Geist scheint intakt, wie er mit halb geschlossenen Augen feststellt, während er an der Stellung des Boots bemerkt, dass sie weiter über der Reling hängt, um Schlangen ins Wasser zu zeichnen, und er muss ein schiefes Boot zurück an Land rudern, wo er es nur halbwegs hinaufzieht, um die Böcke unterzuschieben, denn die Ebbe hat eingesetzt.

      Sie läuft ihm auf dem Weg voraus und schleppt die Fische mit sich, ein paar letzte Blutstropfen fließen an ihren dünnen Beinen herab. Auf seiner Schulter die vier Sensenschäfte, die Axt unter dem Arm, ihre trockenen Kleider in der Hand. Er bleibt stehen und sieht die Sonne im Nordwesten, sie ist matt und nebelverhangen, bald wird sie zu einem Mond werden, es geht auf die Nacht zu, er überlegt, ob er die Sense gleich reparieren oder sich ein paar Stunden Schlaf gönnen soll, bis der Morgentau den Rosengarten überzieht; immer hängt der Tau zuerst im Rosengarten, dort wächst ein seltsames rotes Gras.

      3

      Was auf einer Insel an Land getrieben wird, gehört denen, die es finden, und Inselbewohner finden vieles. Es kann sich um Kork und Tonnen und Hanf und Treibholz und Flottholz handeln – oder um grüne und braune Glaskugeln, die im Meer Fischernetze festhalten –, wie sie, wenn der Sturm sich ausgetobt hat, der alte Martin Barrøy aus den Tanghaufen wühlt, und sich dann damit in das Bootshaus setzt, um sie mit neuen Netzen zu umwinden, sie werden dann wie neu. Es kann sich auch um ein hölzernes Spielzeug für Ingrid handeln, um Fischkästen und Ruder, Fischhaken, Schnurschnellen, Schöpfkellen, Bretter und Bootsreste. In einer Winternacht wurde ein ganzes Steuerhaus an Land geschwemmt. Sie zogen es mit dem Pferd nach oben und stellten es im Süden auf der Insel in den Garten, und nun kann Ingrid auf dem Stuhl des Kapitäns sitzen und am Steuerrad aus Messing und Mahagoni drehen, während sie auf die Wiesen und Mauern schaut, die sich in Wellen über die Insel ziehen.

      Es sind nicht weniger als acht Mauern.

      Sie sind aus Steinen gebaut, die aus dem Erdreich nach oben steigen wie die Glaskugeln aus dem Meer, nur viel langsamer, die Steine brauchen viele Winter dazu, und dann können sie sie im Frühjahr aufsammeln und auf die Mauern legen und sie noch höher machen, die Mauern, die die Insel in neun Wiesen einteilen, oder Gärten, wie sie das nennen. Der Südgarten wird am meisten heimgesucht, dort bricht das Meer mit seinem ganzen Ungestüm herein. Dann folgt der Busengarten, von dem niemand weiß, woher er seinen Namen hat, aber es kann an den grünen Graskuppen und den erhöhten Ackerstellen liegen, die großen und kleinen Frauenbrüsten ähneln und die die Schafe nach der Mahd rund und schön weiden. Dann der Steingarten, weil es dort mehr Steine gibt als anderswo. Der Rosengarten, weil das Gras dort rot ist wie unreife Vogelbeeren. Der Stallgarten umgibt die Häuser, der Garten Eden schaut nach Norden, ist aber trotzdem der fruchtbarste, wo die Kartoffeln angebaut werden, dann der Schorfgarten, der Nordgarten und der Notgarten, die alle ihren Namen verdient haben, auch wenn der Nordgarten der grünste von allen ist und Bootshaus und Landungsplatz umhüllt wie ein riesiger grüner Fäustling.

      Sie finden tote Tümmler und Alken und von stinkenden Gasen zum Bersten gefüllte Kormorane, sie waten durch fauligen Tang und finden halbe Schuhe und einen Hut und einen Krug und Bruchstücke von fremden Leben, Zeugnisse von Überfluss, Schlendrian, Verlust und Verschwendung und von Unglücken, die Menschen getroffen haben, welche ihnen unbekannt sind und denen sie niemals begegnen werden. Ab und zu finden sie auch eine unfreiwillige Botschaft, die sich nicht entziffern lässt, einen Mantel aus England, die Taschen voller Zeitungen und Tabak, einen Kranz von einem feuchten Grab in der Tiefe des Meeres, die französische Trikolore an einer zersplitterten Fahnenstange und einen schleimigen Kasten mit den intimsten Besitztümern einer exotischen Frau.

      Ein seltenes Mal finden sie auch eine Flaschenpost, die eine Mischung aus Sehnsüchten und Geständnissen enthält und an andere gerichtet ist als die, die sie finden, die aber, wäre sie an die richtige Adresse gekommen, die Empfänger dazu gebracht hätte, Blut zu weinen und Himmel und Erde in Bewegung zu setzen. Jetzt öffnen die Inselbewohner sie in ihrer ganzen Nüchternheit und ziehen die Briefe heraus und lesen sie, falls sie die Sprache verstehen, und machen sich auch Gedanken über den Inhalt, kleine vage Gedanken – eine Flaschenpost ist eine geheimnisvolle Vermittlerin von Sehnsucht, Hoffnung und ungelebtem Leben –, und danach legen sie die Briefe in die Kiste für das, was weder besessen noch weggeworfen werden kann, und sie kochen die Flasche aus und füllen sie mit Johannisbeersaft, oder sie stellen sie einfach als Beweis für ihre eigene Leere auf die Fensterbank im Stall, so dass das Sonnenlicht hindurchscheint und grün wird, ehe es sich neigt und sich auf den trockenen Grashalmen auf dem Boden zurechtlegt.

      Aber an einem Herbstmorgen findet Hans Barrøy einen ganzen Baum, den der Sturm hochgeschoben und an der Südspitze der Insel abgelegt hat. Einen riesigen Baum. Hans Barrøy traut seinen Augen nicht.

      Jetzt senkt sich das Meer im Rhythmus des Windes, und der Baum liegt da wie das Skelett eines urzeitlichen Ungeheuers, ein Walrumpf, mit intakten Wurzeln und Zweigen, aber ohne Nadeln oder Rinde, die hat das Meer verzehrt, eine weiße Tonne Harz, so wertvoll draußen in der Welt, da man damit die Bögen berühmter Geiger einreiben kann, damit ihre Töne rein werden. Es ist eine russische Lärche, die durch Jahrhunderte am Ufer des Jenissei in der Einöde südlich von Krasnojarsk herangewachsen ist, in der die Taigawinde ihre Spuren hinterlassen haben wie ein Kamm in fettigem Haar, bis eine Frühlingsüberschwemmung mit Zähnen aus Eis den Baum in den Fluss warf und ihn mit sich führte, drei-, viertausend Kilometer nordwärts in die Karasee, und ihn in die Krallen der salzigen Ströme legte, die ihn nach Norden bis an den Rand des Eises brachten, und dann weiter nach Westen, vorbei an Nowaja Semlja und Spitzbergen und bis zu den Küsten von Grönland und Island, wo wärmere Strömungen ihn aus dem Griff der Kälte rissen und wieder nach Nordosten trieben, in einem mächtigen, die halbe Erde umfassenden Kreis, vollendet in einem Jahrzehnt oder zwei, ehe ein letzter Sturm ihn auf eine Insel an der norwegischen Küste warf, so dass er in einer Dämmerung im Oktober von Hans Barrøy gefunden werden kann, der ihn in stummem Staunen betrachtet.

      Ein so gewaltiger Baum ist in dieser Gegend noch nie angeschwemmt worden.

      Hans Barrøy läuft nach Hause und holt die Familie.

      Sie machen sich daran, die Beute zu teilen, sie entfernen die Zweige und zersägen Wurzeln und Äste und stapeln sie an der Nordwand des Stalles auf, als Brennholz, dann machen sie sich über den Stamm selbst her, Holzscheit um Holzscheit. Doch dann liegt da plötzlich eine römische Säule von gut dreizehn Metern und sie können sie noch immer nicht mit Pferd und Flaschenzügen und der Kraft von fünf Menschen auf den Hof schaffen. Sie vertäuen die Säule und gehen nach Hause und überschlafen die Sache, erschöpft, müde und zufrieden.

      Und bei der nächsten Springflut können sie den Baum noch einige Meter höher ziehen, doch da bleibt er dann liegen, eine umgestürzte Marmorsäule.

      Hans und Martin schneiden noch zwei große Holzstücke СКАЧАТЬ