Название: Davidstern und Lederball
Автор: Dietrich Schulze-Marmeling
Издательство: Bookwire
Жанр: Сделай Сам
isbn: 9783895338809
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Zu den Pionieren des Soccer in der »Neuen Welt« gehörten auch Juden wie Nathan Agar, ein Immigrant aus England und Besitzer der Brooklyn Wanderers, und der bereits erwähnte Gus Manning. 1926 und 1927 absolvierte Hakoah Wien ausgiebige US-Tourneen, von denen sich die amerikanischen Organisatoren eine Popularisierung des europäischen Soccer versprachen. Beim souveränen 4:0-Sieg der Wiener über eine Auswahl der American Soccer League (ASL) kamen 46.000 Zuschauer ins Stadion, für über 40 Jahre Zuschauerrekord für ein Soccer-Spiel in den USA. Soccer war in den USA primär eine »ethnische« Angelegenheit europäischer Einwanderergruppen, die ethnische Teams und ethnische Ligen gründeten. Zwischen 1926 und 1928 heuerten nicht weniger als 15 Hakoah- und Austria-Akteure bei den New Yorker Klubs New York Giants und Brooklyn Wanderers an.
Der zweite neue Schwerpunkt wurde nach dem Zweiten Weltkrieg von einem jungen Staat gebildet: Israel. Seit seiner Gründung 1948 bildete es den ideologischen Anziehungspunkt für viele Juden: »Eine Gesellschaft, die einzigartig ist, da sie über eine jüdische Mehrheit verfügt und zu dem spezifischen Zweck, das jüdische Überleben zu sichern, geschaffen wurde und nun aufrechterhalten wird.«10 Der Holocaust, das Scheitern der jüdischen Assimilationsbemühungen und das Versagen liberaler Demokratien beim Schutz vor Antisemitismus gab dem politischen Zionismus Auftrieb. 1970 war erstmals eine exklusiv jüdische Nationalelf beim Weltturnier vertreten.
In Europa erfuhr der »jüdische Fußball« hingegen durch den Holocaust und die erzwungene Emigration eine nachhaltige Schwächung. Die einst so ruhmreiche Fußballabteilung des SK Hakoah wurde in Österreich zwar 1945 wiedergegründet, spielte aber nur noch eine untergeordnete Rolle und löste sich 1950 sogar auf. In Wien gab es nur noch 5.000 Juden. Den Mannschaftssportarten fehlten deshalb eine ausreichende Zahl jüdischer Jugendlicher.
Auch die ehemaligen Donaufußballklubs MTK Budapest und Austria Wien waren nicht mehr so »jüdisch« wie noch vor dem Zweiten Weltkrieg, was insbesondere für den FK Austria gilt. Nichtsdestotrotz firmieren MTK und Austria, aber auch Ajax Amsterdam und in London Tottenham Hotspur bei gegnerischen Fans unverändert als »Judenklubs«. Der Antisemitismus benötigt Juden nicht in größerer Zahl. So etablierte sich in einigen Fußballstadien ein Antisemitismus ohne Juden.
Im Fall von Ajax und Tottenham führte dies zur Konterkarierung des gegnerischen Antisemitismus durch einen militanten Pro-Semitismus bzw. sympathisch-skurrilen Akt von pro-jüdischer Solidarität, bei dem sich auch Tausende von Nicht-Juden zu Juden erklärten: »Obwohl die Affinität zwischen Tottenham und jüdischen Fans schon lange bestand, hatte das Phänomen der ›Yiddo-Kultur‹ weniger mit der spezifischen Soziologie jüdischen Lebens oder der Nähe jüdischer Viertel zu den Fußballstadien zu tun als mit der Entstehung des rassistischen Hooliganismus. In den späten Siebzigern und frühen Achtzigern reagierten nichtjüdische Tottenham-Fans auf den Antisemitismus, der sich gegen Spurs-Hooligans richtete, auf eine entwaffnende Weise: Sie beantworteten die beleidigenden ›Yiddos, Yiddos‹-Gesänge, indem sie ebenfalls ›Yiddos, Yiddos‹ zu singen begannen. Sie nahmen den Verhöhnungen die Spitze, indem sie die rassistische Bezeichnung übernahmen und umbesetzten. Ein jüdischer Tottenham-Fan erinnert sich an seine erste Begegnung mit diesem Phänomen: ›Es war 1980 oder 1981. Wir spielten auswärts gegen Manchester United. Da fuhren wir immer ungern hin. Wir kamen ins Stadion, und plötzlich sah ich einen Haufen großer Kerle, Shtarkers (Jiddisch für kräftige Männer). Sie waren Spurs-Anhänger und trugen Atemschutzmasken, aber nicht vor ihren Mündern. Sondern auf dem Kopf, als Kippas. Dann ging die Singerei los: Yiddos, Yid-dos, Yiddos.‹ Du bist ein Yid, und das weißt du auch!, rufen die Tottenham-Anhänger Spielern zu, von denen es heißt, sie würden bald zu ihrem Klub kommen, aber auch solchen, die Tottenham verlassen haben, aber bei den Fans immer noch beliebt sind.«11 Ihrem deutschen Helden Jürgen Klinsmann widmeten die Tottenham-Fans den Song: »Chim chiminee, chim chimineee, / Chim Chim churoo. / Jürgen was a German / But now he’s a Jew!« Sowohl bei Tottenham wie bei Ajax wurden israelische Fahnen zu einem gängigen Fanartikel.
Warum dieses Buch?
Die Idee, die gesammelten Erkenntnisse über das in offiziellen Chroniken in der Regel verschwiegene oder nur mit wenigen Sätzen abgehandelte Wirken jüdischer Mäzene, Funktionäre, Trainer und Kicker zusammenzutragen und der interessierten Öffentlichkeit zugänglich zu machen, entstand bereits vor nahezu zehn Jahren, im Kontext einer Buchveröffentlichung zum Thema »Fußball und Rassismus«, die sich auch dem Antisemitismus im europäischen Fußball widmete.12
Die Arbeit an einem derartigen Buch, die Spurensuche nach fast vergessenen Namen oder Leistungen, weckt unweigerlich Wehmut und Trauer. Wehmut und Trauer über den ungeheuren Verlust, den der Holocaust – in diesem Falle aus der Perspektive des Sport- und Fußballfans – für die europäische Fußballkultur bedeutete.
Die Generation des Autors dieser Zeilen weiß von Juden häufig nur im Zusammenhang mit dem Holocaust. Über jüdisches Leben in der Zeit vor dem Holocaust, und hierzu zählte auch der Sport, über Juden als gestaltende Mitglieder einer Gesellschaft und ihrer Kultur, ob assimiliert oder nicht, hatte man weder im Elternhaus noch in der Schule irgendetwas erfahren. Juden existierten nur als namenlose Opfer eines wegen seiner gigantischen Dimension unfassbaren Verbrechens. Der Art und Weise, wie Vergangenheit vermittelt und behandelt wurde, wohnte somit eine eigene Art von Schlussstrich-Philosophie inne. Für die große Masse der Bevölkerung war die Beschäftigung mit dem Holocaust in der Regel auch die letzte Beschäftigung mit dem Judentum und seiner Geschichte im eigenen Lande überhaupt.
Seit Beginn der 1990er Jahre ist die jüdische Gemeinde in Deutschland durch Osteinwanderung auf über 100.000 Mitglieder gewachsen. Am 27. Januar 2003, dem Holocaust-Gedenktag, unterzeichneten die Bundesregierung der Bundesrepublik Deutschland und der Zentralrat der Juden in Deutschland einen Staatsvertrag. Dabei handelt es sich um das erste verbindliche Abkommen seit 1945, das das Verhältnis zwischen dem Staat und der jüdischen Glaubensgemeinschaft regelt. Nicht nur auf rechtlicher und finanzieller Ebene, sondern auch auf der symbolischen.
Mit dem Vertragswerk verbindet sich die Hoffnung auf eine Renaissance jüdischen Lebens in Deutschland. Wir hoffen, dass dieses Buch seinen eigenen kleinen Beitrag hierzu leisten kann.
Anmerkungen
1 | Zit. nach Christoph Bausenwein / Bernd Siegler /Harald Kaiser: 1.FC Nürnberg. Die Legende vom Club, Göttingen 1996, S.45 |
2 | Christiane Eisenberg: »English Sport« und Deutsche Bürger. Eine Gesellschaftsgeschichte 1800-1939, Paderborn 1999, S. 180 |
3 | Ebenda, S. 213 |
4 | Guido von Mengden: Schlusswort zum neuen Anfang, in: »NS-Sport« 1/1939 |
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