Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Dramen. Hermann Stehr
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Название: Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Dramen

Автор: Hermann Stehr

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9788075831040

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СКАЧАТЬ klopfte das Herz vor diesem furchtbaren Anblick. Sie wußte, daß er sich im nächsten Augenblick auf das Mädchen stürzen würde.

      Aber es geschah nicht.

      Etwa zwei Schritte vor ihr machte er halt und sah sie lange stumm an mit seinen kalten, bohrenden Augen. Dazu lächelte er verzerrt und stumm.

      Paule öffnete den Mund, um zu sprechen, allein sie war so in der Angst, daß sie nicht ein Wort hervorbringen konnte. Mit offenen Lippen starrte sie ihn an, und Tränen traten in ihre Augen.

      Der Lahme weidete sich noch eine Weile an ihrem Schrecken; dann sprach er, anfangs mit tiefer Stimme, deren Wanken ihr einen weichen Klang verlieh:

      »Ich hab' alles gehört. 's is gut. Aber – sag's nich mehr ein zweites Mal. Setz dich, Paule, sag's nich mehr! Siehch dir meine Hände an. Sag's nich mehr!«

      Die Drohungen waren immer wilder geworden; aber er begleitete sie mit einem freundlichen Zug im Gesicht, dessen man ihn nicht fähig gehalten hätte.

      Dann fragte er: »Is Guste nich mei Kamerad vo dr Schule her?«

      Niemand antwortete.

      »Wer hat'm unter de Arme gegriffen, wie du, Paule, am Frühjahre ei dr Schande heemkamst? Ei der Schande, ohne 'n Böhmen Geld, zu deiner armen Mutter ei dr Schande! Was?«

      Dem Mädchen strömten die Tränen über das gequälte Gesicht, und sie mußte die Zähne aufeinanderbeißen, um nicht laut aufzuschluchzen.

      »Ja nu, da sollte ich deinen Bruder haun! Weshalb ich denn?«

      Exner lachte nach diesem Ausruf schreiend, rüttelte die erhobenen Arme nach der Seite und wurde noch bleicher.

      Jetzt wagte es Paule, zu antworten:

      »'s heeßt, weil er un hat zugesehen, weil du ...«

      Es ging doch über ihre Kraft, dem Lahmen die Beschuldigung direkt ins Gesicht zu sagen, und sie bückte sich auf ihren Fuß, als sei da etwas zu ordnen.

      Exner lachte wieder, aber es war, als sitze sein Hals in einem Schraubstock. Der Schweiß brach aus seiner Stirn, und er trocknete sie mit zitternder Hand.

      »Nu«, antwortete er dann, »ich weeß alls, was a Steindorfer Leuten de Köppe mit solchen Madenfliegen füllt. Haha, ihr, ihr! Ausgemachte Esel seid'r alle, sonst nischt. Wenn Guste wird wiederkommen, da wird er's euch sagen, ob ich an eem Steene gerückt hab'. Ich mich weger eem so eem Stücke! Acker ei's Zuchthaus bringen? Da müßt' ich Hörner han und Muh schrein! – Wo soll er denn stecken? Ihr müßt's ja wissen, wenn'r 's ausgeheckt habt! Komm, Paule, zum Spaße wer ich dich hinführen, wo de hin willst: ei den Keller, ei den Stall, of a Boden. A Staub aus a Schüben blasen kannste, wenn de willst! – Soll ich etwan de Dielen ufreißen? Haha. – Oder – oder willste ei a Born steigen?«

      Er hatte es sagen müssen; eine unwiderstehliche Gewalt hatte ihn dazu gedrängt, als sei das Verfluchte fort von ihm, wenn er es ausspreche. Nun aber seine Stimme, fremd und sicher wie die eines Anklägers, der neben ihm stehe und alles wisse, in sein Ohr geklungen hatte, fühlte er einen Druck sich auf sein Hirn legen, der zunahm und so stark wurde, daß es war, als schrumpfe sein Kopf zusammen.

      Vor seine Augen legte sich eine immer mehr verdunkelnde Wolke. Er mußte die Ofenkante krampfhaft hinter dem Rücken mit den Händen fassen. Alle Gegenstände in der Stube verschwanden, als wollten sie in die Luft aufschwanken.

      Endlich war die Schwäche vorüber, und Exner sah wieder ganz deutlich den bunten Stieglitz im Käfig umherspringen. Das machte ihm ein so großes Vergnügen, daß er lachte und lachte, bis ihm die Tränen in die Augen traten.

      Schließlich zwang er sich zum Ernste und sprach trocken:

      »Na, Paule, komm, wir wern suchen gehen.«

      Das Mädchen erhob sich und folgte ihm ins Haus. Dort drückte sie sich an dem Klumpen vorbei, sprang flüchtend zur Haustür hinaus und rief herein:

      »Adje, Exner! Mich fängste nich!«

      Der Lahme sah ihr nach und lachte wieder, aber nun klang es, als flattere ein geständertes Huhn zur Erde. Jäh brach er ab, sah sich erschrocken um und ging mit ernstem, bleichem Gesicht wieder in die Scheuer. Marie saß unbeweglich in der Stube und sah mit weit geöffneten Augen starr auf die Diele, als stehe dort eine unsichtbare Schrift, die sie ganz genau zu lesen vermöge, deren Inhalt aber so entsetzlich war, daß sie von einem Taumel erfaßt wurde.

      Warum war ihr Mann nicht aufbrausend gewesen? Warum hatte er sich, entgegen seiner Gewohnheit, in ein langes Gespräch eingelassen? Warum hatte er so grauenvoll gelacht?

      Die Antwort stand dort auf der Diele zwischen den Reihen schwarzer Nagelköpfe.

      Über das Glück, das sie in sich trug, legte sich ein Schleier, der die schönen Bilder ihrer Hoffnung einhüllte und still entführte. Wie ein abgeerntetes Feld war ihre Seele, und hinter dem schwankenden Grau, das die Träume abräumte, blieb eine wüste, leere Fläche zurück, gleich dem umgebrochenen Stoppelfelde, das aussieht wie ein Friedhof, mit unzähligen, frisch aufgeworfenen Hügelchen.

      »Alle meine Zukunft ist tot«, sann sie, »begraben und beginnt zu verwesen.« Ja, und plötzlich nahm sie wirklich jenen süßlichen, beklemmenden Geruch wahr, der von Leichen ausgeht. Hastig holte sie Atem, aber es verhielt sich so. Nun schmeckte sie ihn auch.

      In Angst aufspringen, die Tür aufreißen und im Hause atmen war eins. Der Geruch lag auch hier.

      Sie hielt den Atem in gespannter Brust an und das Herz mitten im Schlage, trat vor die Haustür und öffnete den Mund, um draußen in der frischen Winterluft diese schreckhafte Sinnestäuschung loszuwerden. Aber kaum hatte der kalte Strom ihre Zunge berührt, so rief sie mit gellender Stimme: »Karla! – Karla!«

      Sein großer Kopf kam zögernd aus der niederen Scheunentür heraus. Auf seinem Gesicht malte sich verzweifelte Erwartung. Als er niemand als sein Weib sah, wollte er sich still wieder zurückziehen.

      Allein Marie rief in höchster Aufregung:

      »Karla, komm raus und riech!«

      Er überlegte einen Augenblick, zwang dann ein Lächeln auf sein Gesicht, trat heraus und roch in die Luft. Er wollte einen Spaß machen; die Worte blieben ihm aber wie eine Rinde auf der Zunge sitzen. Mit Mühe zerrte er endlich die Frage hervor:

      »Wonach soll's denn riechen?«

      »Nu, riechst du nischt? 's riecht nach Toten!«

      Dem Lahmen war es, als solle er umfallen. Doch in namenloser Anstrengung lächelte er immerzu, der Schweiß trat aus seiner Stirn, und hilflos ruhte sein erlöschendes Auge auf Marie. Die Zähne im Munde schlugen aufeinander, und gehaucht, als sage es seine Seele, ohne sich der Sprechwerkzeuge zu bedienen, kam es über seine Lippen:

      »Der Schuster fault.«

      Niemand hatte es gehört, selbst sein Ohr nicht. Aber an seinem Herzen war das Bekenntnis nicht spurlos vorübergegangen. Und merkwürdig, dieses Selbstgeständnis ward eine Befreiung. Der Taumel fiel in ihm zusammen, der Schreck verschwand, kein Hämmern auf den Nerven, sein Auge kalt und still.

      Er warf seinem Weibe einen geringschätzigen Blick zu und СКАЧАТЬ