Название: Die wilden Jahre
Автор: Will Berthold
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9788711727157
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Er fand im ersten Ordner einen ganzen Block Reisemarken, die ungültig waren. Ein dickes Bündel Geldscheine fiel zu Boden, Papiermark, die noch zählte. Er schob sie so achtlos in die Tasche wie das Ehrenzeichen, schaute in den zweiten Ordner und stieß auf geballten Unrat des braunen Systems: Intrigen, Verleumdungen, Verdächtigungen; Momentaufnahmen aus dem Dritten Reich, der Gemeinschaft von Erpressern und Erpreßten.
Als er diesen Abfall auf den Müllhaufen werfen wollte, stieß er auf den Namen Kahn.
Er kannte vier Kahns, und am besten von ihnen Lydia, die Tochter, eine dunkelhaarige, hochbeinige Zwanzigjährige mit schelmischen Augen und einer kecken Figur, das Gegenteil ihres Zwillingsbruders Jakob, der verschlossen und ernst wie sein Vater war und seine Jugend vergessen hatte.
Martin sah Lydia vor sich, im Weiß des plissierten Tennisrocks, das ihre Beine noch gebräunter wirken ließ. Sie flirtete lebhaft herum, ohne sich festzulegen. Ihre großen dunklen Augen mußten viel Trauriges ansehen, aber sie blieben lustig bis zuletzt. Lydia machte in schwerer Zeit ihren Eltern das Leben leichter und einigen ihrer Hasser die Verfolgung schwerer. Sie lächelte die Braunhemden sorglos an, lachte sie aus, und liebte es – wenigstens in der ersten Zeit –, die Augen singender Kolonnen auf sich zu ziehen, obwohl der Vorbeimarsch auf der anderen Seite abgenommen wurde.
Lydia leugnete die Gegenwart, verlachte die Zeit und spielte mit Martin Tennis, solange man sie noch auf den Platz ließ. Sie glich ihrer Mutter und hatte wenig vom Vater, einem Ingenieur, der auf ein halbes Dutzend Erfindungen Patente besaß; diese waren seine Einlage der Werke Lessing & Kahn, die sich mit Metallveredelung befaßten.
Lessing, der Vater von Felix, war der Kopf des Unternehmens; Kahn, sein Teilhaber, die Hand, deren Geschick auch während der wirtschaftlichen Depression der dreißiger Jahre der Fabrik die Vollbeschäftigung bewahrt hatte. Dann kam die Rüstung – allerdings unter neuer Leitung.
Unvermittelt schwand vor Martin das Bild eines lustig flatternden Tennisrocks. Die Buchstaben kreiselten wie Insektenschwärme. Der Schriftwechsel in seiner Hand wog schwer: Aus den vergilbten Blättern schlug ihm Blutgeruch entgegen. Er zwang sich zum Lesen, versuchte, die pedantisch nach Daten geordnete, durch Briefe und unterschriebene Notizen belegte Ungeheuerlichkeit zu begreifen.
4. März 1941:
Frederic Panetzky, Inhaber einer Import-Export-Firma in Zürich, Talstraße, läßt durch Kurier unter Berufung auf die alte Geschäftsverbindung Friedrich Wilhelm Ritt einen vertraulichen Brief überreichen, in dem er anfragt, ob die vierköpfige Familie Kahn noch am Leben sei und ob eine Möglichkeit bestünde, ihr zur Auswanderung zu verhelfen. »Ich bin ermächtigt«, heißt es, »in einem solchen Fall im Namen amerikanischer Verwandter der Kahns, die in Philadelphia, Pennsylvania, leben, ein lukratives Angebot (in Dollars) zu machen. Die Summe, deren genaue Höhe noch auszuhandeln ist und die zur Begleichung der Unkosten usw. dienen soll, würde bei einer Zürcher Privatbank hinterlegt und nach dem Eintreffen der Auswanderer in der Schweiz ohne jede Nachfrage und auch ohne jedes Risiko an mich zwecks Weiterleitung ausgehändigt.«
5. März 1941:
Friedrich Wilhelm Ritt erkundigt sich bei einem alten Korpsbruder, z. Zt. Abteilungsleiter im Reichssicherheitshauptamt, Berlin, Prinz-Albrecht-Straße, ob ihm ein Frederic Panetzky, Zürich, usw. bekannt sei.
6. März 1941:
Gaufachschaftsleiter Egon Silbermann teilt »dem alten Kameraden Ritt« auf Anfrage mit, daß die Juden Kahn, Vater, Mutter, Sohn und Tochter zur Zeit in einem Arbeitslager auf ihren Transport in den Osten warteten, der spätestens in einigen Wochen erfolge. »Zwar habe ich seit meiner Rückkehr von der Frontbewährung mit diesen SD-Aktionen nichts mehr zu tun, aber ich könnte immerhin aufgrund alter Beziehungen unter Umständen eingreifen. Wenn Du mir also rechtzeitig mitteilst, was mit diesen Juden geschehen soll, werde ich versuchen, Deine Wünsche entsprechend berücksichtigen zu lassen.«
7. März 1941:
Sturmbannführer K. vom RSHA teilt Friedrich Wilhelm Ritt »streng vertraulich« mit, daß es sich bei Fritz Panetzky um einen Rein-Arier handle, der zur Zeit der k. u. k. Monarchie in Lemberg geboren wurde, es aber 1918 abgelehnt habe, Pole zu werden. »Später schlug sich der Mann als Staatenloser nach Deutschland durch und stellte ein Gesuch auf Einbürgerung. Bei der Überprüfung dieses Antrages kam er mit einer Dienststelle in Berührung, die ich im Reichsinteresse selbst Dir gegenüber nicht näher benennen kann. Panetzky übersiedelte dann nach Zürich, und gründete dort eine Firma; er hat sich offensichtlich bei vielen Aufträgen sehr bewährt. Obwohl er vom Endsieg des Führers überzeugt ist, würde ich ihm mit einer gewissen Vorsicht begegnen.«
9. März 1941:
Aktennotiz über eine Auslandsreise in die Schweiz:
»Sodann teilte ich Panetzky bei einer persönlichen Unterredung mit, daß ich mich für die Auswanderung der mir persönlich bekannten Familie Kahn verwenden würde, falls Pg. Silbermann von der Gauleitung keine Bedenken äußere und das Reich die für seinen Schicksalskampf so nötigen Devisen erhielte. Ich schlug vor, daß die amerikanischen Verwandten der Juden pro Kopf der Auswanderer fünfundzwanzigtausend Dollar, insgesamt also hunderttausend Dollar, hinterlegen sollten, die später auf noch festzulegende Weise der Deutschen Reichsbank …«
2. April 1941:
Panetzky läßt in einem Brief aus Zürich wissen, daß die amerikanischen Verwandten der Kahns mit der Abwicklung »der Sache« zwar grundsätzlich einverstanden seien, aber angeblich hunderttausend Dollar nicht aufbringen könnten und die Hälfte dieser Summe vorschlügen, die sofort überwiesen würde. »Trotzdem erscheint mir dieser Betrag zu gering, zumal ich weiß, daß es sich bei den Verwandten um steinreiche Leute handelt. Um die Aktion selbst nicht durch ein langes Gefeilsche zu gefährden, schlage ich vor, einen der vier Juden – möglichst nicht die Mutter, da es sich bei ihr um die direkte Verwandte der Amerikaner handelt – mit dem nächsten Transport nach dem Osten zu verschicken. Ich bin ganz sicher, daß dann das Geld, und zwar die volle Summe, sofort auf den Tisch kommen wird, wenn man den Leuten in Übersee glaubhaft klarmacht, (vielleicht durch einen Abschiedsbrief oder dergleichen), in welcher Gefahr jüdische Parasiten heutzutage in Deutschland schweben.«
3. April 1941:
Handschriftliche Notiz von Friedrich Wilhelm Ritt: »Ich kann die von Panetzky vorgeschlagene Maßnahme nicht gutheißen und distanziere mich hiermit von dem ganzen Auswandererplan. Selbst wenn ich bedenke, daß es sich bei den Kahns um Menschen handelt, die zu den natürlichen Feinden unseres Volkes gehören, möchte ich doch aus rein menschlichen Gründen eine solche Härte …«
4. April 1941:
»Lieber Kamerad Ritt, … ich bin absolut mit Dir einer Meinung, daß wir uns an Panetzkys Plan in Sachen Kahn nicht beteiligen können. Selbst wenn es mir gelänge, meine rein humanen Argumente auszuschalten, könnte ich schon aus technischen Gründen bei einem solchen Vorhaben gar nicht mitwirken. Als Leiter der Rechtsabteilung beim Gauleiter habe ich mit den Judentransporten glücklicherweise nichts zu tun. Stets zu Deinen Diensten! Dein Egon Silbermann.«
Martin war auf der vorletzten Seite der Akte, die wohl ebenso ein Alibi für Menschenhändler wie eine Kapitalanlage für die Zukunft sein sollte. Und schon bevor er umblätterte, wußte er, wie es weitergehen würde.
Seine Augen brannten. Er sah nach draußen, wunderte sich, daß es nicht regnete, sondern die Sonne schien. Er wandte sich wieder der Vergangenheit zu: dem Vater als Lieferanten, Panetzky als Zwischenhändler, Silbermann als Prokuristen – und den Kahns als Handelsware, СКАЧАТЬ