Название: Die wilden Jahre
Автор: Will Berthold
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9788711727157
isbn:
»Nun iß!« sagte Frau Brenner zu ihrem Jüngsten. Sie sah zu dem Zimmer, in dem Anny vermutlich wieder nicht allein schlief, verzog den Mund und sagte: »Die ist noch nicht aufgestanden. Noch immer nicht.« Sie wandte sich an Martin, der froh war, beim Thema Nummer zwei zu sein. »Sie mag ja Schweres durchgemacht haben«, fuhr Frau Brenner fort, die Stimme dämpfend, »aber das geht doch wohl zu weit – meinen Sie nicht auch, Herr Ritt?«
Der gewesene Oberinspektor sprach wenig. Er litt. Um seinen Beruf zu erhalten, war er in die Partei eingetreten; nun hatte er ihn deswegen verloren – das begriff er nicht.
»Es geht mir ja nur …« Frau Brenner betrachtete Guido. »Es kommen ja einmal wieder normale Zeiten und dann …«
»Und dann?« fragte der Junge ungezogen mit vollem Mund. »Sagt ihr dann wieder, daß ihr gezwungen wart, mitzumachen?«
»Guido!« verwies ihn die Mutter und wandte sich wieder an Martin: »Gewiß, wir haben den Krieg verloren – aber muß ich so etwas in meiner Wohnung dulden, selbst wenn mein Mann bei der Partei war?«
»Ich glaube nicht«, erwiderte Martin ernsthaft.
»Dann verbiet ihr doch, daß sie es mit den Amis treibt!« rief Guido laut.
»Pst!« erwiderte Frau Brenner. »Und drück dich nicht so gewöhnlich aus! Da sehen Sie es, Herr Ritt, wie das abfärbt, wie …«
»Wie was abfärbt?« fragte der Junge. »Das Cornedbeef? Das Fett? Warum redet ihr von Moral und freßt doch das Zeug? Wo ist denn das Fleisch her? Womit hast du die Soße gemacht?«
«Guido, ich bitte dich!« sagte der stille Oberinspektor scharf.
»Entschuldigen Sie«, wandte sich seine Frau an Martin.
»Habt ihr nicht erlebt«, fuhr der Junge fort, »wie weit ihr mit euren Schwindeleien gekommen seid? Und jetzt schwindelt ihr schon wieder!«
Er stand auf, warf die Serviette auf den Tisch:
»Warum sprichst du mit ihr? Warum gibst du ihr die Hand? Warum wirfst du ihr den Plunder nicht vor die Füße? Warum wohl?« Guido beugte sich zornig zu seiner Mutter hinab: »Weil du satt werden willst. Ich auch. Dann laßt aber gefälligst das dumme Gefasel von Moral und so!«
Der Junge warf die Tür hinter sich zu.
Seine Mutter weinte.
»Es tut mir leid, Herr Ritt«, klagte sie zwischen Tränen, während ihr Mann sich lautlos schämte, »aber Sie sehen ja, wie die Kinder in dieser Zeit verwildern.«
»Es wird schon alles werden«, sagte Martin und folgte Guido.
Draußen schloß er mit dem Jungen Freundschaft und träumte davon, daß die heranwachsende Generation aus lauter wilden, respektlosen Guidos bestehen möge.
Am nächsten Tag fuhr ein Jeep vor, der nicht am Hinterausgang hielt, sondern auf der Straßenseite. Ein dicklicher GI keuchte die Treppe herauf und fragte sich nach Martin durch. Er hatte Befehl, ihn in das Hauptquartier der Frankfurter Militärregierung zu schaffen, das im beschlagnahmten Hochhaus der IG-Farben lag, deren Direktoren zur gleichen Zeit vom Nürnberger Militärtribunal abgeurteilt wurden.
»Es tut mir leid«, begrüßte ihn ein Major mit einem Pferdeschädel, der schriftdeutsch mit leicht schwäbischer Klangfarbe sprach, »einem Freund von Captain Lessing hätte ich gern geholfen, aber ich komme selbst nicht durch das Gestrüpp der verdammten Bürokratie.« Er bot Martin eine Zigarette an. »Es kann noch Monate, wenn nicht Jahre dauern, bis ich aus dem Vermögen Ihres – Ihres Vaters …«
»Ich habe nicht die Absicht«, unterbrach ihn Martin, »etwas aus dem Vermögen meines – meines Vaters an mich zu nehmen.«
»Nonsens«, knurrte der Pferdekopf, »mit Ressentiments kommen Sie nicht weiter, Mr. Ritt.« Er sah seinen Rauchringen nach, die wie kleine Schlingen aussahen. »Wir haben eine Möglichkeit gefunden, Ihnen wenigstens unter der Hand zu helfen.«
Die Waldhütte, die der alte Ritt während des Zusammenbruchs als Zuflucht benutzt hatte, diente jetzt einem Colonel als Jagdhaus. Der Offizier war damit einverstanden, daß Martin sich dort holte, was er für brauchbar hielt, und ließ ihm den Schlüssel überreichen. Der Major von der Property Control lieh ihm Jeep und Fahrer für den ganzen Tag.
Eine Stunde später stand Martin mit zwiespältigen Regungen vor der Jagdhütte. Sie lag in einer Waldlichtung, die von der Sonne verwöhnt wurde, an leicht erhöhter Stelle, von Mischwald umsäumt.
Das Schloß war eingerostet, der Schlüssel brach ab. Der dicke Amerikaner fluchte, riß den morschen Holzladen auf, schwang sich auf den Sims, trat mit dem Gummistiefel die Scheibe ein, setzte das Käppi nach hinten, grinste und sagte:
»All right – go in!«
Spinnweben streiften Martins Gesicht. Verbrauchte Luft schlug ihm entgegen. Er kam sich, als er das zwecklose Asyl seines Vaters betrat, wie ein Grabräuber vor. Er riß die anderen Fenster auf. Das Licht fiel auf eine dicke Staubschicht, mit der die Zeit den Raum gepudert hatte. Langsam vertrieb der Luftzug den Geruch von Holz, Nässe und Fäulnis.
Martin wollte nicht an seinen Vater denken, aber er spürte unwillkürlich die Angst und die Einsamkeit, die der alte Mann erlebt haben mußte. Er hat, so dachte Martin, gefehlt und gebüßt – mehr gebüßt als andere, die unbehelligt blieben –, und diese glatte Rechnung erlaubt es mir, mich mit ihm auszusöhnen.
Martin sah sich um und spürte beim ersten persönlichen Kontakt, den er seit vielen langen Jahren mit der Welt seines Vaters hatte, Mitleid.
Er schüttelte es ab und begann, die Schränke und Truhen zu durchsuchen. Er fand Anzüge, deren Hosen und Ärmel ihm zu kurz und deren Jacken ihm zu weit waren. Gutes Material, das man ändern konnte, aber Martin faßte die Kleidungsstücke mit spitzen Fingern an. Zwischen den Socken stieß er auf das Ritterkreuz zum Kriegsverdienstkreuz und steckte es lächelnd für Guido ein, der für dieses seltene Ehrenzeichen mindestens hundert Zigaretten herausschlagen würde.
Die Ausbeute war schmal. Martin hatte es nicht anders erwartet. Er war auch nur gekommen, weil Felix es vorgeschlagen hatte. Er war Überlebender und wollte nicht mehr nach hinten sehen.
Auch das Bücherregal versprach wenig. Brehms Tierleben hielt sich noch aufrecht; die Germanischem Heldensagen waren schräg abgerutscht, und Grimms Volk ohne Raum lag mit dem Gesicht im Staub, umrahmt von Kriminalromanen.
Hinter der Badezimmertür hing ein schwarzes Nylonnegligé, das vermutlich der Gefährtin des derzeitigen Hausherrn gehörte. Martin ging weiter in den Keller, stieß auf leere Wein-und Kognakflaschen, auf weggeworfene Schuhe mit defekten Absätzen und ein Radiogerät, Marke Volksempfänger, das bei der letzten Party in Stücke gegangen war.
Schließlich ging die Rechnung dieses Tages auf: Martin hatte keinen Nachlaß erwartet und auch keinen vorgefunden. Er nahm zwei getragene Anzüge unter den Arm und pfiff vor sich hin, wollte durch die Tür, merkte, daß er den Weg durch das Fenster nehmen mußte, und stieß an einen Stuhl, der gegen die holzverkleidete Wand polterte. Er setzte das Kleiderbündel ab, und während er den Stuhl aufhob, sah er zum zweitenmal den Riß über einer Ausbuchtung der Holzvertäfelung, betrachtete ihn genau und erfaßte, daß in einem Hohlraum etwas versteckt war.
СКАЧАТЬ