Martin stand wieder vor dem Wohnungsamt Schlange, wurde nach zwei Stunden vorgelassen und sollte nun an eine Behörde verwiesen werden, die ihn gestern hierher geleitet hatte.
Er brüllte den Beamten nieder; es war die Sprache, die der Mann verstand.
»Sie haben hier nicht zu schreien«, erwiderte er schüchtern. »So kommen Sie zu gar nichts.« Er wollte den lästigen Besucher mit sanftem Vorwurf zur Räson bringen. Dann sah er Martin an, der angespannt wie zum Sprung dastand, und fing einen Blick auf, der ihm Angst machte.
»Also, was wollen Sie?« fragte der Beamte, er hielt den Kopf schief.
»Was zu essen«, sagte Martin, »ein Zimmer und von mir aus auch einen Arbeitsplatz.«
»Waren Sie in der Partei? Oder in einer Gliederung?« fragte der Beamte streng; diese Zauberformel war im Mai 1947 noch immer die Zwangsjacke für renitente Burschen.
»Nein.«
Der Mann im Stuhl wurde unruhig.
»Auch nicht in der Hitlerjugend?« fragte er.
»Auch nicht in der Hitlerjugend.«
Der Beamte schüttelte den Kopf; er deutete dezent und mechanisch an, wie skeptisch er diese Behauptung aufnehmen müsse.
»Und Sie haben schon vor dem Krieg in Frankfurt gewohnt?«
»Ja.«
»Sie sind nicht vorbestraft?«
»Doch«, antwortete Martin zynisch, »mit dem Tod.«
Der Mann trommelte hilflos mit den Fingerspitzen auf der Schreibtischplatte. Seine Augen zogen sich in die Höhlen zurück wie Schnekken in ihr Gehäuse.
»Ich bin neunzehnhundertvierundvierzig wegen Zersetzung der Wehrkraft, Nichtausführung eines Befehls und Feigheit vor dem Feind zum Tode durch Erschießen verurteilt worden – vielleicht kann ich Ihnen trotzdem beweisen, daß ich noch lebe.«
»Dann«, sagte der Mann, und seine Augen wurden rund, »sind Sie ja gewissermaßen politisch …«
»Was bin ich politisch?«
»Verfolgt.«
Martin begriff sofort; er hatte nicht beabsichtigt, aus der Verurteilung einen Nutzen zu münzen, aber er war es leid, sich in jeder Schlange Wartender vorrechnen zu lassen, daß wohl immer noch zu viele die letzten Jahre überlebt hatten.
»Wenn Sie meinen«, erwiderte er, »dann bin ich politisch verfolgt.«
»Lassen Sie das amtlich anerkennen«, riet der Beamte. »Mit einem Sonderausweis brauchen Sie nirgends mehr zu warten. Wenn Sie schon den Schaden haben«, der Mann sprach sich hüstelnd frei, »dann sollten Sie jetzt auch den Vorteil beanspruchen. Zuzug, Wohnung: alles ist dann viel leichter. Außerdem erhalten Sie Schwerarbeiterzulage.« Sein Blick wurde hungrig. »Vierhundert Kalorien mehr pro Tag.«
Martin wußte noch nicht, was Kalorien waren, und noch weniger, was sie zu bedeuten hatten; deshalb wunderte er sich, daß man politisch Verfolgte stillenden Müttern gleichstellte, als könnten hundert Gramm Butter mehr ein paar Jahre Haft wiedergutmachen. Er hatte die Menschen noch nicht gesehen, wie sie aus den Lagern gekommen waren.
Als er sich schließlich bei der Behörde für rassisch, politisch und religiös Verfolgte meldete, um einen Passepartout für die Bürokratie zu erhalten, kam er sich wie ein Hochstapler vor und wurde auch als solcher behandelt.
Die Leute, die seinen Fall zu prüfen hatten, selbst überlebende Opfer des braunen Regimes, schienen ihn wegen des großen Zudranges zu der Interimsbehörde für einen Defraudanten zu halten, denn so stürmisch wie die hier gemeldeten Ansprüche hatten sie den Widerstand gegen Hitler wohl nicht in Erinnerung, zumal die meisten Gegner liquidiert worden waren.
Man teilte Martin mit, daß seine Akten, von der Militärregierung angefordert, nicht zur Hand wären. Er stand allein; und so gab es, unter Einschluß der Militärregierung, wohl kaum einen Menschen, der sich für ihn und seine Vergangenheit interessieren mochte.
Er hielt diese Auskunft für eine Ausrede, wurde aber, als er nach vier Tagen wieder vorsprach, ohne Aufenthalt zum Leiter dieser Behörde vorgelassen und einem zu fördernden Personenkreis zugewiesen, weil seine Angaben durch ein der Wehrstammrolle beigefügtes Kriegsgerichtsurteil bestätigt worden waren.
Als er die Behörde verließ, war er nicht nur als Existenz anerkannt, sondern auch privilegiert. Er erhielt ohne Arbeitsnachweis Lebensmittelkarten und vom Wohnungsamt einen Quartierschein. Da es zu dieser Zeit vorwiegend bei »belasteten« Zeitgenossen Zimmer gab, ahnte der Heimkehrer, daß er kein gemütliches Zuhause haben würde.
Die unfreiwillige Vermieterin betrachtete ihn mit schweigendem Mißtrauen, das langsam in beredte Zufriedenheit überging. Wenigstens, so dachte sie, ist er ein Mann und keine Frau, Deutscher und kein Pole …
Sie hatte nichts gegen die Polen, empfand auch nichts für sie. Was die Menschen im Osten mitgemacht hatten, wußte sie nicht; und Untaten einzelner DPs, meist Raubüberfälle, wurden, da sie der Stadt im Augenblick näherstanden, mehr besprochen als die Verbrechen der Totenkopfleute in den Todesmühlen.
Die Frau ging voraus und zeigte Martin das Zimmer.
»Hier hat unser Erwin gewohnt.« Sie sprach gleichmütig; ihre Stimme hatte sich an das Leid gewöhnt. Sie sah zu dem Bild an der Wand hin.
Martin folgte ihrem Blick. Es war ein junger Bursche mit einem hübschen offenen Gesicht.
»Ich kann das Bild wegnehmen, wenn es Sie stört.«
»Lassen Sie nur.«
Er sah in die fragenden Augen seiner Quartierwirtin.
»Eine Tasse Tee kann ich Ihnen machen«, sagte sie.
»Gern«, erwiderte er aus Höflichkeit und folgte ihr in die Küche.
»Früher haben wir natürlich nicht hier gegessen … Sie sind noch sehr jung«, fragte sie neugierig.
Er nickte stumm.
»Höchstens siebenundzwanzig …«, fuhr sie fort.
»Dreißig«, berichtigte er mechanisch.
»Und schon politisch verfolgt?«
»Was?«
»Na, Sie haben doch sicher mit den Nazis einen Zusammenstoß gehabt?«
»Wer hat das nicht gehabt?« erwiderte er müde.
»Waren Sie im KZ?« fragte sie, die Stimme dämpfend.
»Nein.« Gereizt setzte er hinzu: »Und wenn ich schon in einem Lager gewesen wäre …«
»Nicht böse sein, Herr Ritt«, entgegnete sie, »ich hab’ bestimmt nichts gegen diese Menschen – aber es gibt doch überall solche oder solche. Oder nicht?«
Das Gerede war ihm gleichgültig; СКАЧАТЬ