Название: Die wilden Jahre
Автор: Will Berthold
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9788711727157
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In den Zellen brannte kein Licht; die Herberge des Todes lag im Dunkel: mehr als tausend Zellen waren belegt; morgen würden zweiundvierzig frei.
Felix stellte den Wagen im Hof ab und betrat das Verwaltungsgebäude. Die polnischen Posten wollten ihn aufhalten, erkannten ihn dann als US-Offizier und grüßten.
Der Kommandant des Kriegsverbrechergefängnisses war noch in seinem Büro, obwohl er längst im Bett sein sollte; er konnte nicht schlafen in solchen Nächten und hatte sich schon ein paarmal von Landsberg weggemeldet.
Er riß die Fenster auf, durch die sich die Nacht in das Haus drängte. Er fror und schwitzte, seine Hand fuhr an den Hals, um die krawatte zu lockern, bis er bemerkte, daß sein Hemd schon offenstand. Er legte das Buch beiseite und polierte seine Fingernägel. Zwischendurch versuchte er, einen Brief an seine Frau nach Philadelphia zu schreiben; er zerriß ihn in kleine Schnipsel.
Der Kommandant hörte Stimmen, ging in sein Vorzimmer, erkannte Felix. »Sie kommen spät«, sagte er.
»Sorry – ich habe es erst vor einer Stunde erfahren, daß …«
»Wir bekommen selbst erst am Abend die Hinrichtungsliste aus Berlin«, entgegnete der Major dumpf. »Ich lasse Ihren Mann in das Besuchszimmer holen.« Felix folgte einem massigen Sergeanten, der ihn mit Neuigkeiten über die Rotjacken unterhalten wollte; der junge Captain hörte nicht zu. Er zwang sich, seinen Vater zu sehen, auf dessen Gesicht sich der Flammenschein der Synagoge spiegelte, zu sehen, wie der Mörder auf den Kommerzienrat zuging, die Hand hob, zu sehen, wie ihn die Männer in den Braunhemden zertraten.
Auch der Todeskandidat Friedrich Wilhelm Ritt hob jetzt die Hand; sie war gefesselt. Der Posten schloß sie auf und zog sich zurück. Der Mann ging wie gezogen; seine Beine schleiften am Boden, während er langsam den Kopf dem Besucher zuwandte. In seinem Gesicht zitterte Hoffnung, lauernd, bang. An seiner Rotjacke hing die Todesangst wie ein übler Geruch.
Er erkannte den jungen Captain; sein Blick wurde starr; seine Hoffnung riß wie die Sehne eines überspannten Bogens.
»Sie?« fragte Ritt. »Ihnen verdanke ich das also?«
»Erfaßt«, entgegnete Felix Lessing ruhig. Er hatte auf diesen Tag lange gewartet; jetzt wunderte er sich, wie wenig er spürte.
»Ich habe die Sache mit den abgeschossenen Fliegern niemals …«
»Das weiß ich«, unterbrach ihn Felix ruhig. Er zündete sich eine Zigarette an. Die Flamme zitterte.
»Sie wissen das?« fragte Ritt.
»Noch viel mehr«, antwortete der junge Captain. »Ich weiß auch, was mit meinem Vater geschah – und mit Martin, Ihrem Sohn. Ich weiß auch, daß er noch leben würde, wenn Sie …«
»Martin?« stieß der alte Mann mit Kinderstimme hervor. Er sah zur Decke, als müsse er überlegen, wem der Namen galt.
»Auch daran sind Sie schuld«, sagte Felix scharf.
Der Mann in der Rotjacke dachte nach. Langsam. In seinem fahlen Gesicht gärte es.
»Dann wäre das morgen …«
»… ein Justizmord«, unterbrach ihn Felix.
»Das sagen … Sie?«
»Ich habe die Zeugen erpreßt«, sagte Felix, »und bestochen.« Der Schall rauschte wie Hochwasser im Raum.
»Und warum sind Sie jetzt hier?« fragte der Gefangene nach langer Pause.
»Um Ihnen das zu sagen.«
»Macht es Ihnen Freude?« fragte der Alte.
»Wäre ich sonst gekommen?« versetzte Felix. »Lassen wir das«, versuchte er, die Worte, vor denen ihm schlecht wurde, wieder einzuholen. »Ich will Ihnen nur beibringen, daß Sie trotz des Fehlurteils zu Recht sterben. Verstehen Sie mich, Ritt? Ein Justizmord – und doch Gerechtigkeit.«
Der Alte stand da, als habe er den Besucher vergessen.
Er versuchte, etwas zu erfassen, das er sein Leben lang nicht empfunden hatte. Niemals hätte er sich mit dem Urteil abfinden können – und jetzt begriff er leise, dunkel, daß es gerecht war – wenn auch falsch begründet.
Felix wußte nichts von den Regungen des Mannes in der Todesjacke; er sah, daß dieser gefaßt wirkte, wollte darüber zornig werden – und spürte, wie ihn der Haß verließ.
»Gut«, sagte der Mann, dem nur noch ein paar Stunden Zeit zum Leben blieben, »ich bin schuld am Tod Ihres Vaters.« Er sprach jetzt, als deklamiere er einen auswendig gelernten Text: »Ich bin vielleicht auch mitschuldig am Tod Martins.« Er schwieg, wie erschöpft von einer Regung des Gewissens, das lange Jahre verschüttet war.
»Und damit, meinen Sie«, sagte Felix halblaut, »könnten wir den Fall abschließen und wären quitt.«
Der alte Ritt hob langsam den Kopf. Sein Blick tastete sich an der Wand entlang zu dem Besucher hin.
»Heute noch nicht«, entgegnete der Gefangenen, »aber – vielleicht morgen …«
Felix kostete die Bitternis eines Sieges, der ihm gestohlen wurde; an seinem versteinerten Haß hing das Mitleid wie ein Bleigewicht.
»Es war schlimm, was mir alles zugestoßen ist«, sagte der Mann mit der toten Stimme, »aber vielleicht – vielleicht habe ich Ihnen jetzt sogar – zu danken …«
Felix atmete schwer. Er spürte, daß der Mann wuchs – während er zu schrumpfen schien. Es fiel ihm schwer, weiterhin sein Opfer anzusehen, dessen Gesicht schon still wie ein Friedhof wirkte, mit leblosen Zügen.
»Okay«, sagte Felix und winkte den Posten herbei, der während des Gesprächs mit stupider Miene auf einem Stuhl gesessen hatte und jetzt mit den Schlüsseln und Handschellen wieder zu dem Mann in der Rotjacke trat.
Jetzt, dachte Felix. Er stand und schwankte, hoffte und verzagte, wehrte sich und wartete: auf einen Bestechungsversuch, auf Erniedrigung, auf einen Ausbruch des Zorns.
Der Alte machte es ihm schwer. Er streckte seinem Bewacher die Arme entgegen wie ein Kind, das der Mutter beweisen will, daß es sich vor Tisch die Hände gewaschen hat.
Die Handschellen klickten ein.
Wenn Ritt jetzt etwas sagen würde, überlegte Felix, wenn er mich jetzt um Verzeihung bäte, wenigstens für Martin, wenn er jetzt ein rechtes Wort fände, eine gute Geste zeigte, dann würde ich umfallen, neun oder zehn Stunden vor seinem Ende, und müßte ich den Strick selbst durchschneiden.
Felix beugte sich vor, erschrocken und gespannt.
Friedrich Wilhelm Ritt nickte. Ohne den Sohn seines Opfers noch einmal anzuschauen, folgte er willig und gebeugt dem Posten. Der junge Captain starrte ihm noch nach, als er schon gegangen war und sich die Falltür dieses Lebens bereits geschlossen hatte.
Felix fuhr los, ohne sich von dem Kommandanten zu verabschieden. Er fürchtete СКАЧАТЬ