Die Insel der Einsamen. Paul Keller
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Читать онлайн книгу Die Insel der Einsamen - Paul Keller страница 8

Название: Die Insel der Einsamen

Автор: Paul Keller

Издательство: Bookwire

Жанр: Документальная литература

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isbn: 9788711517376

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      Günther lachte leise. „Das sind ja Kinder,“ dachte er. Der Riese war wohl einer der Polizisten und Inselwächter, von denen Kajetan gesprochen hatte. Der liess sich also bei Mondschein seine Lanze „magnetisch“ machen und hatte keine Ahnung, dass mittlerweile ein Eindringling die verbotene Insel betreten hatte. Mit viel weniger Vorsicht ging Günther weiter. Der Weg führte ins Innere der Insel. Ein Bauernhof wurde sichtbar, ein Bild des Friedens. Das Mondlicht brach sich in den kleinen Fensterscheiben, ein Storch stand schlafend hoch auf dem Dachfirst, ein Hund steckte neugierig den Kopf aus seiner Hütte, zog ihn aber bald zurück. Ein Stückchen weiter lag eine Kuhherde auf der Weide; die schönen buntgescheckten Tiere schliefen oder kauten mit geschlossenen Augen, kaum, dass einmal der Klang einer Glocke verloren durch die Stille klang. Kein Wächter war bei den Kühen; der Hirt schlief in seiner Kammer, der Hund in seiner Hütte.

      Nun stieg der Wald bergan. Zwei Hügel hatte die Insel; auf dem einen sollte die Kapelle stehen, auf dem anderen das alte Schlösslein. Welcher von den beiden Hügeln war es? Ein Weg stieg empor. Links und rechts war dichter Wald, der Weg war verwachsen von hohem Gras. Viele Jahre lang war hier keine Sichel, keine Harke mehr tätig gewesen. Dicke Stauden hatten den Weg überwuchert, die breiten Steinstufen, die den letzten Teil bergan führten, waren vom Regen verwaschen oder ganz unter Gras und Gestrüpp vergraben. Das war der Kapellenweg. Da hinauf war jahrzehntelang niemand mehr gegangen als vielleicht ein Jäger auf einsamer Pürsch. In alter Zeit, als die Marmorstufen noch weiss im Sonnenlicht schimmerten, waren hier Scharen frommer Christen singend und betend zur Gnadenkapelle gezogen, Priester und Volk, mit Fahnen und in bunten Gewändern, die Hymnen hatten über die Insel und über das Wasser geschallt, und tausend Herzen waren voll Andacht und Hoffnung gewesen; mancher auch war in tiefer Reue über eine dunkle Stunde im Leben von einer Stufe auf die andere gekniet, um Gnade zu finden und den Frieden des Herzens wiederzuerlangen.

      Vergangen, verloren, vergessen! Die Farnkräuter, die zwischen den Stufen wuchsen, waren wie Palmwedel auf dem Grabe einer toten Zeit. Alle, die hier gebetet, gesungen und geweint hatten, waren weit über alle Berge und Hügel der Welt, und die letzte Frau, die hier hinaufeilte, in Todesnot, in Verzweiflung, und der letzte Mann, der ihr folgte, das wilde, schreiende Weh im Herzen und das Messer in der Hand — auch sie waren schon lange still geworden. Wie vergänglich ist der Mensch auf dieser Erde, ein Baum überdauert ihn, die Steinstufe wird hundertmal älter als der Menschenfuss, der sie tritt. Alles stolze Lachen und alles wehe Weinen verweht im Wind, ja, alles was heut gross und trotzig ist und zum Anbeten schön oder zum Verzweifeln schrecklich, ist flüchtiger als der Wind, denn der Wind weht jeden Tag, und was unser ist, ist eine kleine Weile, verschwindet in Vergessenheit und kehrt nie wieder. Kaum, dass aus den Tausend und Millionen Geschehnissen, die auch die kleinste Menschensiedelung hat, einmal eines im Gedächtnis der Menschen stehen bleibt, wie ein altes, totes, nicht mehr gebrauchtes Haus, und mit seinen ruinenhaften Umrissen einen späten Wanderer schreckt oder neugierig macht.

      Günther stieg im Andenken an den tollen Grafen, der sein Weib in den Tod hetzte, den Kapellenberg hinauf. Und er fand das alte Kirchlein. Es war ein runder Backsteinbau von geringem Umfang; rechts und links hatte es ein Rundbogenfenster, das spitz zulaufende Dach trug kein Kreuz mehr. Das hatte wohl der Sturm heruntergebrochen. Aber die Fenster waren noch ganz, und die Tür war noch fest. Obwohl Günther überzeugt war, dass die Tür verschlossen sei, drückte er doch fest auf die Klinke. Da gab es einen schrillen Laut, wie den hässlichen Schrei eines Tieres, die Tür sprang auf, und dumpfe Moderluft quoll aus dem Raum, der durch das einfallende Mondlicht gut erhellt war. Günther wich erst ein wenig zur Seite, dann nahm er den Hut ab und trat in die Kapelle. Rechts und links standen zwei Reihen von Bänken, steif und feierlich, wie offene Särge. Im Hintergrund war der Altar. Über den Altartisch war ein schwarzes, arg verstaubtes Tuch gebreitet, das leere Tabernakel stand offen, die eine Hälfte seiner kleinen Tür war ausgebrochen, vier Leuchter lagen umgeworfen mit ihren gelben Kerzen auf dem Altar, eine alte Lampe ohne Licht hing von der Decke herab. Das Altarbild an der Wand war von tiefem Staub bedeckt, es war kaum noch zu erkennen, dass es eine Madonna darstellte; aber das Kreuz stand noch auf dem Altar, schief vornübergeneigt war es, als ob es die Last des sterbenden Heilands nicht länger ertrage.

      Günther stand inmitten der Kapelle still. Schwere Gedanken bedrückten ihn. Das war die Kirche der Einsamen, war die Kirche des alten Grafen da unten, das Denkmal an das schreckliche Geschehnis, das seine Jugend und sein Leben verdüsterte, da der Vater die Mutter erschlug und die Kapelle entweiht wurde. Wurde auch sein Herz entweiht, war es auch so ein verlassener Tempel Gottes, in dem die Leuchter umgefallen waren und das Tabernakel leer stand, in dem alles, was fromm, lieb und gut war, unter Staub und Moder vergraben wurde? War es so ganz entgöttert, so ganz verloren, oder war noch unter Staub und Schutt ein heiliges Erinnern in ihm wie ein altes Bild; stand noch ein windschief Kreuzlein in seinem öden Raum?

      Der junge Mann wandte sich rasch zum Gehen, und wie er die Tür schloss, war es wieder wie ein hässlicher Schrei, und dann war alles still. Ein fahrender Händler hatte Günther von der Blutkapelle erzählt und auch, dass jene unglückliche Frau bei ihr begraben sei. Ihr Grab würde nicht zu finden sein, meinte Günther. Vielleicht hatten die Leute der Sünderin keinen Hügel gegönnt, oder wenn sie doch einen gewölbt hatten, so würde er versunken sein, verwaschen vom Regen, zertreten von rohem Volk.

      Langsam ging Günther um die Kapelle und blieb erstaunt stehen, als er einen Grabhügel sah, der ganz frisch schien; ein Strauch von roten Rosen blühte an seinem Kopfende, und zwei Kränze von ganz frischen Blumen lagen auf ihm.

      Wer pflegte dieses Grab? Wer dachte in Liebe der Toten, die darin schlief? Günther nahm den Hut ab. Eine kleine Weile stand er noch in dieser wundersamen Welt, dann stieg er den Kapellenweg rasch wieder hinab. Er hatte nun das Gefühl, dass er die Insel verlassen müsse, und wollte zur Landungsstelle zurückkehren, liess sich aber durch ein zweites Bauerngehöft, das dem ersten ähnlich war, irreführen und geriet tiefer in die Insel hinein.

      Von fernher kam ein leises Singen. Günther ging dem Klang nach. Er hörte bald, dass es eine gute, wohlgeschulte Stimme war, die da durch die Stille der Nacht sang. Noch unterschied er nicht die Worte des Liedes, aber wenige Schritte weiter sah Günther die Sängerin. Sie lehnte am alten Liebesbrunnen, der seinen hölzernen Arm hoch in die Luft streckte. So war also auch die Sage vom Sänger und seinem Edelliebchen kein blosser Traum, so war wirklich der grause Brunnenschacht vorhanden, über dem ein gefangenes Edelkind in eigener Todesnot den vielgetreuen Buhlen sterben sah? Ja, sass nicht dort selbst jenes schöne Mädchen im hohen Gras, ganz dicht am Brunnen? Das Mondlicht spielte mit prangendem Blondhaar, das lang herniederrann und in goldenen Wellen auf den Wiesengrund flutete. Musste es nicht jenes Schätzelein sein, um das es sich lohnte, jung zu sterben, war solche Schönheit zweimal auf der Welt?

      Das Lied war aus, die letzten Worte sprachen vom Scheiden. Die Sängerin, die am Brunnen lehnte, strich sich die grauen Haare aus der Stirn und wandte sich zu dem Mädchen:

      „Am besten wäre es, du hörtest niemals Lieder, Klotildis!“

      „Warum?“

      „Das Singen macht nur unglücklich. Wenn man ganz ruhig und friedlich ist, braucht man nur singen zu hören, und es ist aus mit der Ruhe. Man wird unruhig, man bekommt Sehnsucht. Ich wollte, ich hätte niemals einen Ton singen gehört.“

      „Aber du singst so schön. Das ist, weil du es gelernt und auf dem Theater gesungen hast.“

      „Rede nicht davon!“

      „Warum erzählst du mir nie vom Theater?“

      Die Sängerin trat dicht vor das Mädchen und sagte mit viel Bitterkeit:

      „Weil es das Elendeste ist von der ganzen Welt. Weil es junge Menschen anlockt, die voller Ideale, voll königlichen Hochsinns sind, Menschen, die ausgezeichnet sind mit Gütern, die andere nicht haben, und nie mit Geld bezahlen, nie durch Fleiss erwerben СКАЧАТЬ