Название: Das verlassene Haus
Автор: Louise Penny
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Ein Fall für Gamache
isbn: 9783311701262
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Er sah sich rasch um und ging zu der großen Staffelei, die mitten im Raum stand. Das Atelier roch nach Ölfarben, Lösungsmitteln und Holz, darunter lag eine Note von starkem Kaffee. Viele Jahre des Schaffens und viele Kannen Kaffee hatten den Raum auf angenehme Weise imprägniert. Warum fühlte sich Peter dann so bedroht?
Er blieb vor der Staffelei stehen. Clara hatte ein Tuch über die Leinwand gehängt. Er stand da und überlegte, sagte sich, dass er gehen sollte, flehte sich selbst an, das, was er vorhatte, nicht zu tun.
Als er sah, wie sich seine rechte Hand ausstreckte, konnte er kaum glauben, dass er das tat. Wie ein Mensch, der seinen Körper verlassen hatte, wusste er, dass er keine Kontrolle mehr über das Kommende hatte. Es schien vorherbestimmt zu sein.
Seine Hand griff nach dem fleckigen alten Tuch und zog.
Es war still im Raum. Clara hätte am liebsten Myrnas Hand ergriffen, aber sie traute sich nicht, sich zu bewegen. Für den Fall, dass irgendetwas kam und seine Aufmerksamkeit auf sie richten würde.
Dann hörte sie es. Sie alle hörten es.
Schritte.
Das Drehen eines Türknaufs. Ein Wimmern wie von einem verängstigten Hundewelpen.
Unvermittelt ertönten mehrere ohrenbetäubende Schläge. Ein Mann brüllte, Clara spürte, wie von beiden Seiten Hände nach ihr tasteten. Sie nahm sie und umklammerte sie, als hinge ihr Leben davon ab, während sie ständig wiederholte: »Komm, Herr Jesu, sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast. Amen.«
»Lasst mich rein«, heulte eine Stimme von draußen.
»O Gott, es ist ein böser Geist«, sagte Myrna. »Das ist deine Schuld«, sagte sie zu Gabri, dessen Augen vor Schreck weit aufgerissen waren.
»Pest«, heulte die körperlose Stimme. »Ihr seid die Pest.«
Eine Fensterscheibe klirrte, und ein furchterregendes Gesicht erschien. Alle im Kreis wichen keuchend zurück.
»Mach auf, du Blödmann, ich weiß, dass du da drin bist«, schrie die Stimme. Es war gewiss nicht das, was Clara als Letztes auf Erden zu hören erwartet hätte. Sie hatte immer gemeint, es wäre: »Was hast du dir dabei nur gedacht?«
Gabri erhob sich zitternd von seinem Stuhl.
»Herr im Himmel«, rief er und schlug ein Kreuz. »Es ist ein Vortoter.«
Hinter dem Fenster kniff Ruth Zardo die Augen zusammen und schlug ein halbes Kreuz.
Peter starrte das Bild auf der Staffelei an. Seine Kiefer verkrampften sich, und seine Augen wurden hart. Es war viel schlimmer, als er erwartet hatte, viel schlimmer als befürchtet, und Peter war von Haus aus ein furchtsamer Mensch. Vor ihm stand Claras neuestes Werk, dasjenige, das sie bald Denis Fortin zeigen würde, dem einflussreichen Galeristen aus Montréal. Bislang hatte Clara praktisch unbehelligt von irgendeiner Art von Publikum ihre unverständlichen Werke geschaffen. Zumindest fand Peter sie unverständlich.
Dann hatte eines Tages wie aus dem Nichts aufgetaucht Denis Fortin an ihre Tür geklopft. Peter war natürlich davon ausgegangen, dass der renommierte Galerist mit Kontakten in der gesamten Kunstwelt seinetwegen gekommen war. Schließlich war er der weithin bekannte Künstler. Seine akribisch genau gemalten Bilder verkauften sich für Tausende von Dollars und hingen in den besten Häusern Kanadas. Peter hatte Fortin deswegen mit der größten Selbstverständlichkeit in sein Atelier geführt, wo ihm höflich erklärt wurde, dass seine Bilder ja ganz schön wären, aber er, der Galerist, eigentlich wegen Clara Morrow gekommen sei.
Wenn Fortin gesagt hätte, eigentlich sei er ein Marsmännchen, wäre Peter auch nicht erstaunter gewesen. Er wollte Claras Bilder sehen? Warum das denn? Dann fing er an zu begreifen und starrte Fortin fassungslos an.
»Warum?«, hatte er gestammelt. Dann war die Reihe an Fortin zu starren.
»Clara Morrow wohnt doch hier? Die Künstlerin? Ein Freund zeigte mir ihre Mappe. Ist diese Mappe nicht von ihr?«
Fortin hatte eine Mappe aus seiner Aktentasche genommen und tatsächlich, da war Claras weinender Baum. Der Wörter weinte. Welcher Baum weint Wörter?, hatte sich Peter gefragt, als Clara ihm das Bild das erste Mal gezeigt hatte. Und jetzt sagte Denis Fortin, der bedeutendste Galerist in Québec, es sei ein beeindruckendes Werk.
»Das ist meins«, sagte Clara und war zwischen die beiden Männer getreten.
Verwundert, so als wäre das alles ein Traum, hatte sie Fortin in ihrem Atelier herumgeführt. Und sie hatte ihm ihre neueste Arbeit beschrieben, die sich unter der leinenen Tarnkappe befand. Fortin hatte auf das Tuch gestarrt, aber er hatte nicht danach gegriffen, hatte nicht einmal gefragt, ob sie es vielleicht entfernen würde.
»Wann wird es fertig sein?«
»In ein paar Tagen«, hatte Clara gesagt, ohne recht zu wissen, woher sie den Mut dazu nahm.
»Wie wäre es mit der ersten Woche im Mai?« Er hatte gelächelt und mit großer Herzlichkeit ihre Hand geschüttelt. »Ich bringe meine Kuratoren mit, dann können wir alle gemeinsam entscheiden.«
Entscheiden?
Der bedeutende Denis Fortin würde in gut einer Woche wiederkommen, um Claras neueste Arbeit zu sehen. Und wenn sie ihm gefiel, dann war ihr Weg zum Erfolg vorgezeichnet.
Jetzt stand Peter da und starrte das Werk an.
Plötzlich spürte er, wie etwas nach ihm griff. Von hinten. Es drang in ihn ein und verbiss sich dort. Peter keuchte vor Schmerz, ein schneidender, scharfer Schmerz. Tränen stiegen ihm die Augen, als er von dem Gespenst überwältigt wurde, das ihn schon sein ganzes Leben lang verfolgte. Vor dem er sich als Kind versteckt hatte, vor dem er weggelaufen, das er vergraben und verleugnet hatte. Es war ihm hinterhergejagt, und schließlich hatte es ihn gefunden. Hier, in dem Atelier seiner geliebten Frau. Hier, vor ihrem Werk, hatte ihn das schreckliche Monster gefunden.
Und verschlang ihn.
5
Was wollte Ruth denn?, fragte Olivier, als er die Gläser mit Single Malt Scotch vor Myrna und Gabri stellte. Odile und Gilles waren nach Hause gegangen, aber alle anderen waren noch im Bistro. Clara winkte Peter zu, der aus seiner Jacke schlüpfte und sie an einen Haken neben der Tür hängte. Sie hatte ihn gleich nach dem Ende der Séance angerufen und ihn zur Manöverkritik eingeladen.
»Na ja, zuerst dachten wir, sie würde ›Pest‹ rufen, ›ihr seid die Pest‹«, sagte Myrna, »aber dann wurde uns klar, dass sie ›Nest‹ und ›ich hab ein Nest‹ rief.«
»Nest? Wirklich?«, fragte Olivier, der sich auf der Lehne von Gabris Sessel niedergelassen hatte und an einem Cognac nippte. »Nest? Glaubt ihr, dass sie das eigentlich immer meint?«
»Und wir haben uns immer verhört?«, fragte Myrna. »Du stinkst wie ein Nest? Hat sie das neulich zu mir gesagt?«
»Dem wünsche ich ein Nest an den Hals?«, fragte Clara. »Gut möglich. Sie ist ja ein schräger Vogel.«
Monsieur Béliveau lachte СКАЧАТЬ