Название: Das verlassene Haus
Автор: Louise Penny
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Ein Fall für Gamache
isbn: 9783311701262
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»Du hast es also wirklich noch, Haze?«, hatte Madeleine vor einigen Jahren lachend ausgerufen, als sie das erste Mal in das Zimmer gekommen war. Sie war sofort zu dem alten Sofa gegangen und hatte sich über die Rückenlehne gehängt, so als hätte sie vergessen, wie Menschen sitzen, hatte der verblüfften Hazel ihren schmalen Hintern entgegengestreckt.
»Wahnsinn«, tönte Mads Stimme gedämpft aus dem Spalt zwischen Sofa und Wand hervor. »Erinnerst du dich noch, wie wir von hier hinten deine Eltern belauscht haben?«
Das hatte Hazel ganz vergessen. Eine weitere Erinnerung, die zu dem dick gepolsterten Sofa gehörte. Plötzlich erklang lautes Lachen, und Madeleine warf sich herum wie das Schulmädchen, das sie einmal gewesen war, blickte Hazel an und streckte ihr die Hand entgegen. Hazel beugte sich vor und sah etwas zwischen den schmalen Fingern. Etwas sauberes Weißes. Es sah wie ein kleiner, verblichener Knochen aus. Hazel holte tief Luft, ein wenig besorgt, was das Sofa wohl ausgespuckt hatte.
»Das ist für dich.« Madeleine legte das kleine weiße Ding vorsichtig in Hazels ausgestreckte Hand. Madeleine strahlte. Man konnte es nicht anders nennen. Sie hatte einen Schal um ihren kahlen Kopf gewickelt und ihre Augenbrauen unbeholfen nachgezeichnet, sodass sie stets ein bisschen erstaunt aussah. Die bläulichen Ringe unter ihren Augen verrieten eine Müdigkeit, die nichts mehr mit schlaflosen Nächten zu tun hatte. Trotz alledem hatte Madeleine gestrahlt. Und ihre Freude durchdrang den öden Raum bis in die letzte Ecke.
Sie hatten sich seit zwanzig Jahren nicht gesehen, und obwohl Hazel sich an jedes einzelne Ereignis aus der Zeit ihrer Jugendfreundschaft erinnerte, hatte sie merkwürdigerweise vergessen, wie lebendig sie sich in Madeleines Gegenwart immer gefühlt hatte. Sie sah auf ihre Hand. Das Ding war kein Knochen, sondern ein zusammengerollter Zettel.
»Der steckte immer noch im Sofa«, sagte Madeleine. »Stell dir das einmal vor. Nach all den Jahren. Wahrscheinlich hat er auf uns gewartet. Auf genau diesen Moment.«
Madeleine schien etwas Magisches an sich zu haben, erinnerte sich Hazel. Und wo es etwas Magisches gab, da geschahen auch Wunder.
»Wo hast du ihn gefunden?«
»Da hinten.« Mad deutete mit der Hand hinter das Sofa. »Ich hatte ihn in ein kleines Loch gesteckt, als du mal auf dem Klo warst.«
»Ein kleines Loch?«
»Ein kleines Loch, das ein kleiner Stift gemacht hat.« Madeleines Augen funkelten, während sie so tat, als würde sie mit einem Stift ein Loch in das Sofa bohren, und Hazel musste lachen. Sie konnte sie regelrecht vor sich sehen, wie sie in dem kostbaren Möbelstück ihrer Eltern herumbohrte. Madeleine war furchtlos. Hazel gehörte zu denen, die in der Schule Aufsicht gewesen waren, Madeleine zu denen, die sich immer verspätet ins Klassenzimmer schlichen, nachdem sie noch schnell im Gebüsch eine gequalmt hatten.
Hazel sah auf das kleine weiße Röhrchen in ihrer Hand, das vor Sonnenlicht und fremden Blicken geschützt nach Jahrzehnten von dem Sofa wieder ausgespuckt worden war.
Dann wickelte sie den Zettel auseinander. Und sie wusste, dass sie mit Grund Angst davor gehabt hatte. Denn sein Inhalt änderte schlagartig und für alle Zeiten ihr Leben. In runden, mit satter lila Tinte geschriebenen Buchstaben stand dort ein einziger, einfacher Satz.
Ich mag dich.
Hazel wagte es nicht, Madeleine in die Augen zu sehen. Aber als sie von dem winzigen Notizzettel aufblickte, stellte sie fest, dass ihr Wohnzimmer, das an diesem Morgen noch so düster gewirkt hatte, auf einmal einen warmen, freundlichen Eindruck machte und die ausgeblichenen Farben zu leuchten begonnen hatten. Als ihr Blick wieder zu Madeleine zurückkehrte, war das Wunder geschehen. Aus einem waren zwei geworden.
Madeleine fuhr nach Montréal, um die Behandlung abzuschließen, aber sobald wie möglich kam sie in das Cottage auf dem Land zurück, umgeben von sanften Hügeln, Wäldern und Wiesen voller Frühlingsblumen. Madeleine hatte ein Zuhause gefunden, genau wie Hazel.
Jetzt nahm Hazel ihre Stopfsachen von dem alten Sofa. Sie machte sich Sorgen. Sorgen darüber, was im Bistro vor sich ging.
Sie hatten das Runenorakel gemacht, das auf den altnordischen Symbolen der Weissagung beruhte. Nach den Runensteinen war Clara ein Auerochse, Myrna eine Fackel und Gabri ein Karfunkel, auch wenn Clara ihm erklärte, die Rune würde nicht Karfunkel, sondern Furunkel bedeuten.
»Stimmt! Ich habe eines am Hintern«, sagte Gabri beeindruckt. »Und deine Rune stimmt auch, du Kuh.«
Monsieur Béliveau griff in den kleinen Weidenkorb und zog einen Stein mit einem Symbol in Form eines Diamanten heraus.
»Hochzeit«, mutmaßte Monsieur Béliveau. Madeleine lächelte, sagte aber nichts.
»Nein«, sagte Jeanne, nahm den Stein und betrachtete ihn. »Das ist der Gott Ing.«
»Lassen Sie mich mal.« Gilles Sandon griff mit seiner großen, schwieligen Hand in das Körbchen und zog sie wieder heraus. Als er die Faust öffnete, erblickten sie einen Stein mit dem Buchstaben R. Er sah für Clara ein bisschen wie die Holzeier aus, die sie für die Kinder versteckt hatten. Die waren auch mit Symbolen bemalt. Aber Eier waren Symbole des Lebens, während Steine Symbole des Todes waren.
»Was bedeutet das?«, fragte Gilles.
»Das steht für Rad, das Rad des Lebens. Eine Reise«, sagte Jeanne und sah zu Gilles. »Oft von Mühsal und schwerer Arbeit begleitet.«
»Verraten Sie mir was Neues!«
Odile lachte, genau wie Clara. Gilles arbeitete schwer, und sein Körper zeugte von den Jahren als Holzfäller. Stark und kräftig, oft genug übersät mit blauen Flecken und kleineren Blessuren.
»Allerdings«, sagte Jeanne und legte ihre Hand auf den Stein, der noch immer auf Gilles’ schwieliger Handfläche lag, »liegt er verkehrt herum. Das R steht auf dem Kopf.«
Auf einmal waren alle ganz still. Gabri hatte in den Erläuterungen zu den Runensymbolen entdeckt, dass sein Stein tatsächlich »Karfunkel« und nicht »Furunkel« bedeutete, und er hatte mit Clara geschimpft und ihr angedroht, sie von der weiteren Versorgung mit Pasteten und Rotwein abzuschneiden. Jetzt wandten sie sich wieder den anderen zu, die Jeanne gespannt zuhörten.
»Und was bedeutet das?«, fragte Odile.
»Es bedeutet, dass der Weg nicht leicht ist. Es soll Sie ermahnen, vorsichtig zu sein.«
»Und was bedeutet seiner?« Gilles deutete auf Monsieur Béliveau.
»Gott Ing? Er verweist auf Fruchtbarkeit und Männlichkeit.« Jeanne lächelte den ruhigen, sanften Gemischtwarenhändler an. »Daneben gemahnt er eindringlich daran, dass wir alles Natürliche achten sollen.«
Gilles СКАЧАТЬ