Название: Elfenzeit 8: Lyonesse
Автор: Uschi Zietsch
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Elfenzeit
isbn: 9783946773320
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Er schüttelte die Gedanken ab, das war jetzt nicht von Bedeutung. Allein die Konzentration auf die Selbstfindung zählte, alles andere war zweitrangig. Seine Hand sank nach unten, neben den Deckstein, und er tastete mit seinen magischen Sinnen tief hinab. Bald drang ein rötliches Leuchten von unten herauf, und dann sickerte roter Nebel nach oben, wie von einer unterirdischen heißen Quelle ausgestoßen. Er umspielte die Hand des Getreuen, wanderte hoch zu seiner Schulter, und von da aus den anderen Arm hinunter, dessen Finger sich fest in den Ring verkrallten. Als der Nebel dort angekommen war, spannte der Getreue seine Muskeln an und riss den Deckstein mit einem gewaltigen Ruck aus der Verankerung. Der Schwung warf ihn um, hastig ließ er los, während er den Halt verlor, und der schwere Stein krachte dröhnend auf den Boden. Der Getreue stürzte auf den Rücken und stieß einen keuchenden Laut aus. Seine Gestalt flackerte für einen Moment und wurde diffuser, doch er fing sich schnell wieder, sein eiserner Wille zwang ihn hoch.
Er drehte sich und kroch auf allen vieren an den Rand des Schachts, der schwarz empor gähnte. Uralte, staubige Luft waberte hervor und sank müde auf den Boden, um zu vergehen.
Ein leises Scharren zeigte an, dass sich etwas dort unten bewegte. Etwas atmete, zog geräuschvoll die sonnenerhitzte Luft ein, die über der Kälte dort unten strich und kleine Wirbel bildete.
Ein tierhaftes Wesen. Groß. Krallen kratzten über Gestein. Lungen pumpten Luft. Muskeln spannten sich an zum Sprung.
Der Getreue wich zurück und zwang sich auf die Beine.
Und da kam es auch schon heraus.
Ein rotgoldener Schemen, der mit donnerndem Gebrüll und einem gewaltigen Satz sein Gefängnis verließ und mit der Wucht eines Erdbebens auf dem Boden der Freiheit landete. Die mit herabwallender Mähne bedeckten Schultern annähernd zwei Meter hoch, ein muskulöser Löwenleib mit Skorpionschwanz, und statt eines Löwengesichts das eines menschlichen Mannes, beherrscht von wild glühenden Augen, harten, fast grausamen Gesichtszügen und einem übergroßen, überbreiten Mund mit drei scharfen Zahnreihen.
Sieh mal einer an, dachte der Getreue überrascht.
Der Mantikor brüllte ein zweites Mal und schüttelte sich, bevor er sein Augenmerk auf den Getreuen richtete, der ruhig dastand.
»Bin ich … der Letzte?«, fragte er mit heiserer, ungeübter Stimme.
»Hier? Soweit ich weiß, ja«, antwortete der Getreue. »Die anderen sind nach Jangala gegangen, doch es gibt nicht mehr viele von ihnen. Die Menschen mögen es im Allgemeinen nicht, bei lebendigem Leibe verspeist zu werden. Da sie zahlreich wie Zecken und unaufhaltsam wie Mücken sind, haben sie deiner Art den Garaus gemacht.«
»Wieso konnten wir uns nicht zur Wehr setzen?«
»Die Trennung der Welten kam dazwischen. Wie ist dein Name?«
»Kurus.«
»König? Ein großer Name für einen kleinen Mantikor.«
Der schwarze Umhang flatterte, als Kurus den Getreuen mit aufgerissenem Mund anbrüllte. Sein Atem allerdings war erstaunlich frisch. Anscheinend hatte er noch nie einen Menschen verspeist, oder es war schon sehr lange her.
»Ich bin ausgewachsen, du schwarz verhüllter Wicht! Wie willst du dich mit mir messen?«
»Gar nicht«, erwiderte der Getreue gelassen. »Kurus, weshalb wurdest du hier eingesperrt?«
Der Mantikor schwieg verdutzt. Setzte sich auf die Hinterläufe. »Mein … mein Muttervater tat es«, sagte er dann zögernd.
Es gab nur männliche Mantikore. Angeblich pflanzten sie sich fort, indem die Mütterväter eine bestimmte Frucht schluckten, die sie in sich gären ließen und nach einer Weile wieder auswürgten und dadurch einen Welpen zur Welt brachten.
»Ich war damals noch sehr klein«, fuhr Kurus fort. »Ja … ich erinnere mich. Ich war für Großes ausersehen, doch er sagte, ich müsse in Sicherheit verbleiben, bis es soweit wäre …«
»Dann wollte dein Muttervater dich wieder rausholen, wenn es an der Zeit war?«
»So sagte er es mir. Was ist mit ihm geschehen?«
»Ich weiß es nicht, Kurus. Doch er wird wohl nicht zurückkehren, nach dieser langen Zeit. Du bist nun ausgewachsen, aber du hast immer noch den Verstand eines Kindes.«
»Ich …« Der Mantikor blickte deutlich verwirrt drein. »Ich habe nicht darüber nachgedacht.«
Der Getreue nickte. »Wie denn auch, nachdem du dein Leben lang eingesperrt gewesen bist. Das ist nicht deine Schuld.«
»Und … und was jetzt?« Misstrauen blitzte plötzlich in den orangefarbenen Augen auf. »Warum hast du mich befreit?«
»Weil deine Tür sichtbar wurde. An so etwas geht unsereiner nicht einfach vorüber, es sei denn, er hat die Tür selbst verschlossen.«
Kurus scharrte mit der Tatze über den Boden. »Dann bin ich dir wohl verpflichtet.«
»Ganz recht.« Das war immer der schöne Teil an den Regeln. »Ich schlage dir einen Handel vor.«
Die Löwenohren des Mantikors klappten nach vorn. »Ein Handel?«
»Genau. Ich werde verfolgt, ich bin sehr schwach, und ich muss so schnell wie möglich über dieses Gebirge. Mein Weg führt nach Norden. Trage mich, und ich werde dir unterwegs Wissen beibringen. Am Ziel kannst du deiner Wege gehen und nach den anderen suchen. Oder deiner Bestimmung.«
Der Getreue hatte inzwischen nachgedacht. Ihm war klar geworden, dass er, sollte er sich weiter auf dieser Ebene bewegen, früher oder später von den Verfolgern eingeholt würde. Also würde er sich der Nachstellung einfach durch eine Flucht durch die Zeit entziehen. Gleichzeitig würde er in der Vergangenheit nach seinem Ziel suchen. Er hatte inzwischen begriffen, dass der Anfang wörtlich gemeint war – er musste tatsächlich bis dorthin zurück, in die richtige Zeit, um in das richtige Land, an den richtigen Ort zu gelangen. Niemand konnte ihm dorthin folgen.
Gleichzeitig brachte er den Mantikor dorthin, wo er zu Hause war. In diese Welt hier gehörte er nicht. Und der Getreue hatte ein perfektes Transportmittel.
»Nun, was sagst du?«
Kurus zögerte. »Habe ich … eine Wahl?«
»Willst du denn eine?«
»Nein«, lautete die schnelle Antwort.
»Brav«, sagte der Getreue zufrieden.
Kurus legte den Kopf leicht schief. »Wer bist du?«, flüsterte er.
»Derjenige, der dir die Freiheit gab. Du tust gut daran, das nicht zu vergessen. Im Allgemeinen nennt man mich den Getreuen oder den Mann ohne Schatten, das soll dir genügen.«
Der junge Mantikor stand auf, sein Skorpionschwanz peitschte. »Lass uns gehen. Ich habe Hunger.«
Menschenfleisch würde er aber nicht bekommen, dafür würde der Getreue sorgen. Sollten Sterbliche unterwegs auf dem Weg zurück in der Zeit zu Schaden kommen, würde es in einer Katastrophe enden, die möglicherweise nicht nur die Menschen-, sondern auch die Anderswelt vernichtete. Beide Sphären СКАЧАТЬ