Название: Chefarzt Dr. Norden Staffel 6 – Arztroman
Автор: Helen Perkins
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Chefarzt Dr. Norden Staffel
isbn: 9783740976828
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»Sei endlich still!« Der Tacho zeigte bereits zweihundert Stundenkilometer und kroch noch weiter nach rechts. Kai Wagner starrte mit glasigem Blick auf das graue Band der Straße, das sich vor seinen Augen in Rauch und Staub auflöste. Und dann sah er wieder das verhasste Jagdzimmer vor sich. Die mit dunkler Wandbespannung bezogenen hohen Mauern voller Geweihe, die Vitrine aus Wurzelholz mit den Gewehren, den ausgestopften Fuchs, das blicklose Reh, all die toten Dinge, die ihn mitleidlos zu betrachten schienen. Und der Alte in all seiner Pracht, in seiner Rechten den schwarzen Stock aus Mahagonieholz mit dem silbernen Knauf.
»Ich werde dich lehren, mir zu gehorchen! Ich werde einen Mann aus dir machen, einen richtigen Mann…«
Mit einem lauten Knall verpuffte die böse Erinnerung. Kai Wagner wollte aufatmen, als er begriff, dass dieser Knall nichts mit dem zu tun hatte, was sich gerade in seinem Kopf abspielte. Er war ganz real gewesen. Ein Reifen war geplatzt. In der nächsten Sekunde leuchtete der Bordcomputer wie ein Christbaum auf. Der Wagen bekam sofort Schlagseite. Kai kurbelte wie ein Wilder am Lenkrad, ohne noch etwas zu erreichen.
Die Lenkung blockierte, der Jaguar legte sich kurz quer, dann schoss er wie ein Pfeil auf die Leitplanken zu. Es herrschte wenig Verkehr an diesem Frühlingsabend. Für ein paar endlose Sekunden sah der Unternehmer in der Ferne den Chiemsee im letzten, milden Licht der Frühlingssonne bläulich schimmern. Dann folgte der Aufprall. Mit ohrenbetäubendem Krachen und Knirschen zerlegte der schwere Wagen die Leitplanken, als seien sie aus Papier. Kurz touchierte er ein Feld, auf dem die erste Saat spross, drehte sich und überschlug sich mehrere Male, bis er völlig demoliert auf dem Dach liegen blieb.
*
Lisa Wagner öffnete mühsam die Augen. Zuerst sah sie nur schwache Umrisse und meinte, sich noch in jenem seltsamen Zustand zu befinden, der sie seit gefühlt unendlich langer Zeit nicht freigeben wollte. Das Letzte, woran sie sich erinnern konnte, war ihre Flucht vor Kai gewesen. Dann der Sturz. Und danach nur noch Dunkelheit.
»Lisa, kannst du mich hören?«
Nun war sie erst recht überzeugt, zu träumen. Marks Stimme? Das konnte nicht sein, war schlicht unmöglich. »Mama, wach doch auf!«
Torben? Lisa versuchte noch einmal, aus dem tiefen, dunklen Schacht der Bewusstlosigkeit aufzutauchen. Diesmal gelang es ihr. Und dann schaute sie verwundert in das Gesicht ihres Bruders, der ihr zulächelte.
»Mark …« Ihre Stimme war nur ein Hauch.
»Lisa, endlich!« Ihr Bruder drückte sacht ihre Rechte. Und dann schob sich Torbens kleines Gesicht neben das des Onkels.
Die junge Frau räusperte sich, ihr Hals war staubtrocken. Während Torben seine Mutter unendlich erleichtert mit dicken Küssen überschüttete, griff Mark nach dem Tee, der neben dem Bett stand, um seiner Schwester ein wenig davon einzuflößen. Eigentlich schmeckte er nicht nach viel, doch für Lisa wurde er zum köstlichen Nektar, zum Wasser des Lebens schlechthin, als er ihre Kehle befeuchtete und auch ihre Lebensgeister zu wecken schien. »Mark …« Sie drückte seine Hand und lächelte schwach. »Wie geht es dir? Was hat Kai dir angetan, was …« Ein stechender Schmerz in der Brust ließ sie verstummen. Sie atmete flach, da wurde es ein wenig besser, aber nicht wirklich gut.
»Du solltest noch nicht so viel reden«, riet Mark ihr fürsorglich. »Zwei deiner Rippen waren gebrochen und mussten operativ gerichtet werden. Und deine Lunge war auch betroffen.«
Lisa schloss kurz die Augen und schaute ihren Bruder dann auffordernd an. Sie erinnerte sich daran, dass sie sich immer auch ohne Worte verstanden hatten. Und das funktionierte nach wie vor. Mark berichtete ihr, was geschehen war, von dem Überfall auf ihn, seinem Gedächtnisverlust und auch von dem, was nach Lisas Treppensturz geschehen war.
»Kai?«, fragte sie leise.
Ihr Bruder machte ein ernstes Gesicht. Er dachte daran, wie Amelie vor ein paar Tagen in sein Krankenzimmer gekommen war und ihm erzählt hatte, was seinem Schwager zugestoßen war. Zu diesem Zeitpunkt hatte Dr. Berger noch versucht, den Unternehmer zu reanimieren.
Doch Kai Wagners Verletzungen hatten sich als zu schwer erwiesen. Wie immer war er nicht angeschnallt gewesen, als der Unfall geschehen war …
»Dein Mann ist geflohen, als die Polizei ihn verhören wollte. Er hatte einen tödlichen Unfall.«
Auf diese Eröffnung schwieg Lisa erst einmal. Sie lauschte in sich hinein, wartete auf ein Gefühl, eine Reaktion. Doch da war nichts. Es ging ihr einfach noch zu schlecht. Und alles, was mit Kai zusammenhing, schob sie automatisch ganz weit weg. Später würde sie darüber nachdenken, sehr viel später …
Mark blieb noch bei ihr, bis die Visite kam.
Bevor er in sein eigenes Zimmer zurückkehrte, brachte er Torben zurück auf die Kinderstation. Er sollte noch ein paar Tage zur Beobachtung in der Behnisch-Klinik bleiben. Zumindest so lange, bis sein Onkel in der Lage war, sich um ihn zu kümmern.
Der junge Ingenieur war überrascht, Elfriede Kramer dort anzutreffen. Die Haushälterin begrüßte ihn freundlich und erklärte: »Ich wollte nach Torben schauen. Bis seine Mutter wieder gesund ist, hat er doch niemanden. Und ich wusste ja nicht, ob oder wann Sie sich kümmern können, Herr Hansen …«
»Das ist sehr nett von Ihnen, Frau Kramer. Wenn Sie etwas Zeit haben, würde ich Sie gerne auf eine Tasse Kaffee einladen. Es gibt im Erdgeschoss ein gemütliches Café.«
Elfriede Kramer war gleich einverstanden. Die Geschehnisse im Hause Wagner lagen wie Blei auf ihrer Seele, und sie sehnte sich danach, endlich mit jemandem darüber reden zu können. Mark war ein geduldiger Zuhörer. Das meiste wusste er von Lisa, aber er erfuhr auch noch Dinge, über die seine Schwester nicht hatte sprechen können und die ihn zutiefst erschütterten.
Als Frau Kramer ihren Bericht beendet hatte, war die zweite Tasse Kaffee bereits geleert. Der junge Ingenieur schwieg betroffen. Er hatte nicht einmal geahnt, durch welche Hölle Lisa in den vergangenen Monaten gegangen war.
»Herr Behrens, der Anwalt von Herrn Wagner, hat mich angerufen und gebeten, die Beerdigung zu arrangieren. Und er hat mich gefragt, an welchen Kollegen er sich wegen des Nachlasses wenden könne. Ihre Schwester ist ja die Alleinerbin.«
Daran hatte Mark noch nicht gedacht.
»Sie erbt ein großes Vermögen. Ich finde, das ist zumindest ein kleiner Trost, wenn man bedenkt, was sie gelitten hat«, warf die Haushälterin ein. »Hat Ihre Schwester einen Anwalt?«
Mark gab ihr den Namen und die Adresse seines Studienfreundes, denn ihm fiel sonst niemand ein. »Aber ich muss das erst mit Lisa besprechen. Ich bin mir nämlich nicht sicher, ob sie das Erbe annehmen wird.«
»Sie meinen … Aber das wäre ja töricht! Sie hat es verdient, das arme Kind. Herr Wagner ist ihr sehr viel mehr schuldig geblieben als Geld. Reden Sie ihr zu, sie soll nicht dumm sein!«
Mark lächelte ein wenig, denn die herzensgute Art von Elfriede Kramer rührte ihn. Doch so einfach, wie sie dachte, war dies alles ganz gewiss nicht. Seelische Wunden heilten eben sehr langsam, manchmal nie. Geld konnte dabei kaum helfen.
Nachdem Elfriede Kramer sich verabschiedet hatte, rief Mark Simon Berger an und bereitete ihn auf die Erbangelegenheit vor.
»Ich möchte, dass du Lisa vertrittst. Allerdings kann ich dir noch nicht sagen, ob sie das Erbe überhaupt annehmen СКАЧАТЬ