Ich habe immer nur den Zaun gesehen. Ernst Heimes
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Название: Ich habe immer nur den Zaun gesehen

Автор: Ernst Heimes

Издательство: Автор

Жанр: Документальная литература

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isbn: 9783898018746

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СКАЧАТЬ KZ Natzweiler. Ein Versuch, mehr zu begreifen. Rückte ich mir das bisher Unvorstellbare näher, weil ich die Anlagen besichtigte? Ich hatte vor gehabt, viele Fotos zu machen, diese zu Hause zu zeigen und zu sagen: Seht mal! Nach dem zweiten Auslösen versagte die Kamera. Vor Kälte. Also keine Fotos. Aber die Notwendigkeit, die Eindrücke aufzuschreiben, sie blieb. Dennoch ging ich tagelang Papier und Bleistift aus dem Weg. Ich schrieb damals nur diesen einen kurzen Text:

      Am Eingangstor stand nicht Arbeit macht frei, obwohl es geplant gewesen sein soll, sondern lediglich Konzentrationslager Natzweiler. Beim kurzen Gespräch mit dem Herrn an der Pforte hätte ich diesem gern verheimlicht, dass ich Deutscher bin. Ich begegnete meiner Unsicherheit mit dem Gedanken, dass er mir mein Alter ja ansehen müsse und dass ich aus einer anderen Generation komme, als der, die hier gemordet hatte.

       Die Kälte lähmte meine Finger. Ich packte den Fotoapparat in die Tasche. Die Kleider der Lagerinsassen waren dünne Leinenanzüge gewesen. Konnte ich auch nur ahnen, wie schrecklich es gewesen sein muss, hier zu erfrieren? Ich schob meine Hände, in wollenen Handschuhen steckend, tief in die Manteltaschen. Zwei oder drei Minuten lang blieb ich stehen, reckte den Kopf in den schneidenden Wind. Bevor der Schmerz kam, rieb ich mir eine meiner Wollhände durch das Gesicht, um die Eiseskälte zu vertreiben. In den Folterkammern, dem Sektionsraum und den Tötungsräumen suchte ich vergeblich nach Spuren von Gewalt. Alles gereinigt und zur Besichtigung frei gegeben. Das Büro des Arztes, der für medizinische Versuche an Menschen zuständig war, ist ein leerer Raum. Er unterscheidet sich nur durch die Größe und die Höhe des Fensters von den Gefängniszellen, die sich in einer anderen Baracke befinden. Ein bei den Einzelzellen des Bunkers abgetrennter Raum war ursprünglich zum Aufstellen eines Ofens vorgesehen. Viel zu klein für einen menschlichen Körper. Es sollen aber manchmal sogar zwei Menschen darin eingepfercht worden sein. Nicht sitzen, nicht stehen, nicht liegen, irgendetwas dazwischen und das mitunter vierzehn Tage lang. Und dann diese Kälte! Doch meine Fantasie ließ mich im Stich. Der Schrecken wurde nicht spürbar. Ich betrachtete mir andere Besucher der Gedenkstätte. Ob diese mehr begriffen? Im Krematorium stand ich vor dem Verbrennungsofen wie bei einer Schlossbesichtigung vor dem Bett des Bayernkönigs Ludwig auf Neuschwanstein. Die Nazis haben ganze Sache gemacht. Nicht nur das Leben von Menschen, auch das Wesen der Dinge scheinen sie ausgelöscht zu haben, so, dass sie zu mir jetzt nicht mehr sprachen. Nur der Zaun, drei Meter hoch zwischen doppelreihigen Holzpfosten gespannt, ließ mich seine Undurchdringlichkeit spüren.

      Das Lager wurde in einer Höhe von achthundert Metern mitten in den Vogesen von den Häftlingen unter Zwang aufgebaut. Ich wäre an der Einsamkeit zu Grunde gegangen, die hier zu spüren war, die trotz aller Besuchergeschäftigkeit mehr nachzuempfinden war, als der Schrecken von Folter- und Tötungsgeräten. Deshalb hat mich auch der Zaun so sehr erschüttert, dieser verfluchte Zaun war es, der diese Vergessenheit, dieses weg sein von der Welt besiegelt haben muss.

       Eine Ahnung überkam mich: Ich bin völlig unwichtig und egal. Es ist der Welt und den Menschen einerlei, ob ich lebe, leide oder sterbe. Ich werde geschlagen auf dem Prügelbock. Bäume und Felsen schweigen. Meine Schreie enden an den Wänden der Baracke. Wenn ich tot bin, wird mein Körper verbrannt und die Asche in das Gemüsebeet des Lagerkommandanten gekippt werden. Niemand wird fragen: Wer war er? Völlig egal.

      Es war eine sehr ruhige Zeit in Natzweiler mit vielen Gelegenheiten zum Nachdenken. Wieder zu Hause machte ich mich sofort an die Arbeit und schrieb eine Erzählung, die im Wesentlichen das beinhaltete, was ich Dir bis hier hin erzählt habe. Alle Dialoge, verfasste ich allerdings im moselfränkischen Dialekt, so, wie ich sie mit vielen Einheimischen tatsächlich gesprochen habe. Bei späteren Lesungen und Vorträgen trug ich diese Passagen auch im Dialekt vor. Heute weiß ich: Meine Erzählung war nur der Anfang einer jahrelangen Auseinandersetzung mit dem KZ-Außenlager Cochem und seinen Nebenlagern Bruttig und Treis.

      Abb. 10: Das Lagertor des Konzentrationslagers Natzweiler Struthof (Foto: E. Heimes Januar 1985)

      Wenn ich mich mit den Menschen hier vor Ort unterhalte, sprechen die wenigsten von Konzentrationslagern in Bruttig und Treis. Sie sagen Arbeitslager. Das klingt weniger dramatisch. Und Arbeit ist ja schließlich nichts Schlechtes. Oder? Weit gefehlt, die Annahme, es habe sich hier um eine mildere Abstufung eines der bekannten KZs gehandelt. Die Verhältnisse in den Außenlagern waren die Fortsetzung der Verhältnisse in den großen Konzentrationslagern an anderen Orten. Sie unterschieden sich durch die Größe. Das KZ-Außenlager Cochem war nicht so ausgestattet wie das Lager Natzweiler. Es gab keine Gaskammern und keine Verbrennungsöfen. Auch wurden in Cochem keine medizinischen Versuche an Gefangenen durchgeführt. Aber: In der Mitte des Lagers in Bruttig stand der Galgen, als immer gegenwärtige Drohung, in den Zwingern wurden Hunde gehalten, verkommen zu lebenden Waffen, genau wie in Natzweiler auch. In Treis bedurfte es keines Galgens. Hier wurden die Menschen an den Bäumen erhängt, die im Lager standen. Alle Anweisungen für Cochem kamen aus Natzweiler. Es herrschten die gleichen Vorschriften. Die Post für die Gefangenen in Cochem wurde in Natzweiler zensiert. Das Schrecklichste, was Cochem mit Natzweiler gemein hatte: die Gefangenen waren hier wie dort zu einem bestimmt, zur Vernichtung durch Arbeit.

      Cochem mit seinen Nebenlagern Bruttig und Treis war nur eines von 72 Außenlagern des KZ Natzweiler. Andere große KZs hatten ähnlich viele. Man stelle sich das vor. Deutschland war gespickt von Lagern, übersät von Stätten der Folter und des Todes. Und schenkt man den Zeitgenossen Glauben, die davon nichts gewusst haben wollen, sollen sie doch heute endlich zur Kenntnis nehmen, dass in der Nähe von fast allen deutschen Städten und Ortschaften solche Terroreinrichtungen platziert waren. Der Internationale Suchdienst von Arolsen gibt die Zahl der Konzentrationslager im damaligen Reichsgebiet mit 1.037 an. Dreiundzwanzig seien Hauptlager, 1.014 Nebenlager gewesen. Ferner habe es acht Vernichtungslager und unzählige andere Lager gegeben. Wie Treis und besonders Bruttig zeigen, befanden sich die Außenlager teilweise inmitten der Ortschaften.

      Das KZ Natzweiler-Struthof, ungefähr fünfzig Kilometer südwestlich von Straßburg gelegen, wurde am 1. Mai 1941 eröffnet. Bereits im September 1944 wurde es geschlossen, nachdem die Gefangenen nach Dachau deportiert worden waren. In den allgemeinen Publikationen über die Konzentrationslager im SS-Staat wird Natzweiler-Struthof als Vernichtungslager charakterisiert. Es gehörte jedoch, misst man die Größe eines Konzentrationslagers an der Anzahl der dort hin Deportierten und Ermordeten, nicht zu den größten Vernichtungslagern. Allerdings war Natzweiler berüchtigt wegen der Durchführung medizinischer Versuche an lebenden Personen. Natzweiler war Endstation für viele Widerstandskämpfer aus den Staaten westlich des Reichsgebietes.

      Die Benennung des Lagers ergab sich aus dem Namen der kleinen, im Tal gelegenen Gemeinde Natzweiler und dem Struthof, eines Hotels mit angrenzendem Bauernhof. Oberhalb des Struthofs wurde an einem Berghang das Konzentrationslager errichtet. Um die Arbeiten auszuführen, wurden im Mai 1941 die ersten Gefangenen hierher gebracht. Die Besitzer des Struthofs hatten zu dem Zeitpunkt das Hotel und den Hof bereits geräumt. Ein erstes provisorisches Lager wurde im Struthof errichtet. Die Gefangenen wurden gezwungen, rund achthundert Meter oberhalb des Struthofs das Lager aufzubauen. Die Strecke dazwischen, über die das gesamte Baumaterial von den Gefangenen geschleppt werden musste, war extrem steil und führte damals durch unwegsames Gelände.

      Der Beschluss, das Lager an diesem Ort zu errichten, war durch das Vorhaben der Nazis bestimmt, die in der Nähe gelegenen Granitvorkommen durch den Einsatz der Gefangenen abzubauen. Dieses Vorhaben wurde in den Folgejahren unter Ausnutzung der Arbeitskraft der Häftlinge verwirklicht. Natzweiler wurde das einzige Konzentrationslager auf französischem Boden. In seinen vierzehn Häftlingsbaracken war Platz zur Unterbringung von 1.500 Menschen. Zu Beginn des Jahres 1944 lag die Zahl der Häftlinge noch unter 2.000, im September des gleichen Jahres, kurz vor der Umsiedlung und Schließung des Lagers, war es mit 7.000 Menschen völlig überbelegt.

      Von den 150 Häftlingen, die im Mai 1941 mit СКАЧАТЬ