Guy de Maupassant – Gesammelte Werke. Guy de Maupassant
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Читать онлайн книгу Guy de Maupassant – Gesammelte Werke - Guy de Maupassant страница 233

Название: Guy de Maupassant – Gesammelte Werke

Автор: Guy de Maupassant

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия: Gesammelte Werke bei Null Papier

isbn: 9783962817695

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СКАЧАТЬ sie sich dann wie­der ganz von Sin­nen fühl­te, so von Sin­nen wie da­mals in je­ner Nacht ih­rer Flucht durch den Schnee, sprang sie auf und rann­te ans Fens­ter, um sich zu er­fri­schen und die Luft ein­zuat­men, von der die Tote da auf ih­rem letz­ten Ru­he­la­ger nichts mehr spür­te.

      Der ab­ge­mäh­te Ra­sen, die Bäu­me, die Hei­de, das Meer da drü­ben la­gen in fried­li­chem Schwei­gen, ent­schlum­mert un­ter dem mil­den Lich­te des Mon­des. Auch in Jo­han­nas Herz drang et­was von die­ser be­ru­hi­gen­den Mil­de und sie be­gann lang­sam zu wei­nen.

      Dann kehr­te sie wie­der an das Bett zu­rück und setz­te sich nie­der, die eine Hand in die ih­ri­ge neh­mend, als wach­te sie bei ei­ner Kran­ken.

      Ein großer Nacht­schmet­ter­ling, war an­ge­zo­gen von dem Licht­schim­mer, her­ein­ge­flo­gen. Er schlug an die Wän­de wie ein Ball, und flog von ei­nem Ende des Zim­mers zum an­de­ren. Jo­han­na, von sei­nem schnur­ren­den Flu­ge auf­merk­sam ge­wor­den, hob die Au­gen um nach ihm aus­zu­schau­en. Aber sie be­merk­te nichts, als sei­nen Schat­ten, der an der wei­ßen Zim­mer­de­cke um­her­irr­te.

      Dann hör­te sie nichts mehr. Doch nun ver­nahm sie das »Tik-Tak« der Stutz­uhr und ein an­de­res leich­tes Geräusch, oder viel­mehr ein fast kaum be­merk­ba­res Sau­sen. Es war Müt­ter­chens Ta­schen­uhr die, ver­ges­sen in ih­rem Klei­de auf ei­nem Stuh­le, noch im­mer wei­ter ging. Und plötz­lich brach der et­was ver­hal­te­ne bitt­re Schmerz in ih­rem Her­zen aufs neue her­vor, wie sie das klei­ne wei­ter­ge­hen­de Uhr­werk an die leb­lo­se Tote da auf dem Bet­te er­in­ner­te.

      Sie sah nach der Zeit. Es war halb elf. Eine furcht­ba­re Angst, die­se gan­ze Nacht da zu­zu­brin­gen, er­griff sie.

      An­de­re Erin­ne­run­gen tauch­ten vor ih­ren Au­gen auf: Aus ih­rem ei­ge­nen Le­ben – Ro­sa­lie, Gil­ber­te – die bit­te­ren Ent­täu­schun­gen ih­res Her­zens. Al­les war doch nur Elend, Trüb­sal, Un­glück und Tod. Al­les täusch­te, al­les log, brach­te Leid und Trä­nen. Wo fand sich denn noch ein freund­li­ches Ru­he­plätz­chen? Im an­de­ren Le­ben je­den­falls. Wenn die See­le vom Er­den­staub be­freit war. Die See­le! Sie be­gann über die­ses un­er­forsch­li­che Ge­heim­niss nach­zu­grü­beln in dem sie sich plötz­lich je­nen poe­sie­vol­len Träu­me­rei­en hin­gab, wo eine Vor­stel­lung der an­de­ren folgt, ohne ein Bild zu schaf­fen. Wo weil­te wohl jetzt die See­le ih­rer Mut­ter? Die See­le, die zu die­sem re­gungs­lo­sen eis­kal­ten Kör­per ge­hört hat­te? Wohl weit von hier. Ir­gend­wo im un­er­mess­li­chen Him­mels­rau­me. Aber wo? Ver­flüch­tet wie der Duft ei­ner ab­ge­stor­be­nen Blu­me? Oder plan­los um­her­schwei­fend wie ein un­sicht­ba­rer Vo­gel, der dem Kä­fig ent­schlüpft ist?

      War sie zu Gott zu­rück­ge­kehrt? Oder be­lie­big un­ter neu­en Schöp­fun­gen ver­streut, mit Kei­men ver­mischt, die zur Frucht her­an­reif­ten?

      Ganz in ih­rer Nähe viel­leicht? Weil­te sie etwa noch in die­sem Zim­mer, um­kreis­te sie den star­ren Kör­per, den sie ver­las­sen? Jo­han­na glaub­te einen Hauch zu ver­spü­ren, wie die Berüh­rung ei­nes Geis­tes. Sie hat­te Furcht, ge­wal­ti­ge Furcht, so hef­tig, dass sie sich kaum zu re­gen wag­te; ihr Atem stock­te, sie ver­moch­te nicht sich um­zu­wen­den, um hin­ter sich zu schau­en. Ihr Herz poch­te laut vor Ent­set­zen.

      Plötz­lich nahm der Schmet­ter­ling sei­nen un­sicht­ba­ren Flug wie­der auf und be­gann rings an die Wän­de zu klat­schen. Ein Schau­er durch­rie­sel­te sie von oben bis un­ten; aber dann er­kann­te sie das Brum­men des ge­flü­gel­ten We­sens wie­der und be­ru­hig­te sich. Sie er­hob sich und wand­te sich um. Ihr Blick fiel auf den Schreib­tisch mit den Sphinx-Köp­fen, den Auf­be­wah­rungs­ort der »Re­li­qui­en.«

      Eine son­der­ba­re zart­füh­len­de Idee durch­zuck­te ihr Hirn. Sie woll­te le­sen, le­sen in die­sen der To­ten so teu­ren Brie­fen, heu­te in der Stun­de der letz­ten Nacht­wa­che, wie sie ein from­mes Buch ge­le­sen ha­ben wür­de. Es kam ihr vor, als er­fül­le sie eine süs­se hei­li­ge Pf­licht, einen Akt kind­li­cher Pie­tät, der der To­ten drü­ben in der and­ren Welt Freu­de be­rei­ten wür­de.

      Es wa­ren die al­ten Brie­fe ih­rer Gro­ß­el­tern, die sie nicht ge­kannt hat­te. Sie woll­te ih­nen über dem Kör­per der Toch­ter die Hand rei­chen, sich mit ih­nen in die­ser düstren Nacht ver­ei­nen, als hät­ten sie Teil an die­sem Leid; sie woll­te eine Art ge­heim­nis­vol­le Zärt­lich­keits­ket­te bil­den zwi­schen den To­ten von da­mals, der stil­len Lei­che dort und ihr selbst, die noch auf Er­den ver­blie­ben war.

      Sie öff­ne­te die Schreib­tisch­plat­te und ent­nahm der un­te­ren Schieb­la­de ein Dut­zend der klei­nen gelb­li­chen Pa­pier­bün­del, wel­che in mus­ter­haf­ter Ord­nung ne­ben­ein­an­der la­gen.

      Mit ei­ner Art wohl­be­dach­ter Sen­ti­men­ta­li­tät brei­te­te sie die­sel­ben auf dem Bett zwi­schen den Ar­men der To­ten aus und schick­te sich an zu le­sen.

      Es wa­ren jene ehr­wür­di­gen Brief­schaf­ten, wie man sie in al­ten Fa­mi­li­en­schreib­ti­schen fin­det; jene Brief­schaf­ten, die die Luft ei­nes and­ren Jahr­hun­derts at­men.

      »Mei­ne Teu­re!« be­gann der ers­te Brief; auf ei­nem zwei­ten stand »Mein lie­bes Töch­ter­chen!« dann kam: »Mein Herz­chen!« – »Mein an­ge­be­te­tes Töch­ter­chen!« – Lie­bes Kind!« – »Lie­be Ade­laï­de« – »Lie­be Toch­ter«, je nach­dem sie sich an das Kind, an die Toch­ter und spä­ter an die jun­ge Frau rich­te­ten.

      Und das al­les at­me­te so viel lei­den­schaft­li­che Zärt­lich­keit, so viel Lie­be zum Kin­de; es er­zähl­te so viel große und klei­ne Ge­heim­nis­se, und da­zwi­schen wie­der al­ler­hand Din­ge, die dem Fer­ner­ste­hen­den gleich­gül­tig wa­ren: »Papa hat die Grip­pe; die Zofe Hor­ten­se hat sich den Fin­ger ver­brannt; die Kat­ze ›Cro­que­r­at‹ ist tot; die Tan­ne rechts vom Tore ist ge­fällt wor­den; Mut­ter hat ihr Ge­bet­buch auf dem Rück­weg von der Kir­che ver­lo­ren, sie glaubt dass es ge­stoh­len ist.«

      Auch von Leu­ten war dar­in die Rede, die Jo­han­na zwar per­sön­lich nicht ge­kannt hat­te, de­ren Na­men sie sich aber noch dun­kel aus ih­rer ers­ten Ju­gend­zeit er­in­ner­te.

      Mit wah­rer Zärt­lich­keit ver­tief­te sie sich in die­se Ein­zel­hei­ten, wel­che ihr wie eine Art To­te­ner­we­ckung vor­ka­men. Es war ihr, als tre­te sie plötz­lich in die Ver­gan­gen­heit ein, als sehe sie alle Ge­heim­nis­se, das ei­gent­li­che Her­zens­le­ben ih­rer Mut­ter vor sich. Sie be­trach­te­te wie­der den Leich­nam, und plötz­lich be­gann sie ganz laut zu le­sen; sie las für die Tote, als wol­le sie ihr Zer­streu­ung und Tracht brin­gen.

      Es kam ihr vor, als ob der Ge­sichts­aus­druck der Ver­stor­be­nen ein glück­li­cher wäre.

      Ei­nen nach dem and­ren leg­te sie die Brie­fe zu Füs­sen des Bet­tes; sie mein­te, man müs­se sie statt der Blu­men ihr in den Sarg mit­ge­ben.

      Sie öff­ne­te ein neu­es Packet. Es war eine an­de­re Schrift. СКАЧАТЬ