Название: Guy de Maupassant – Gesammelte Werke
Автор: Guy de Maupassant
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Gesammelte Werke bei Null Papier
isbn: 9783962817695
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Der abgemähte Rasen, die Bäume, die Heide, das Meer da drüben lagen in friedlichem Schweigen, entschlummert unter dem milden Lichte des Mondes. Auch in Johannas Herz drang etwas von dieser beruhigenden Milde und sie begann langsam zu weinen.
Dann kehrte sie wieder an das Bett zurück und setzte sich nieder, die eine Hand in die ihrige nehmend, als wachte sie bei einer Kranken.
Ein großer Nachtschmetterling, war angezogen von dem Lichtschimmer, hereingeflogen. Er schlug an die Wände wie ein Ball, und flog von einem Ende des Zimmers zum anderen. Johanna, von seinem schnurrenden Fluge aufmerksam geworden, hob die Augen um nach ihm auszuschauen. Aber sie bemerkte nichts, als seinen Schatten, der an der weißen Zimmerdecke umherirrte.
Dann hörte sie nichts mehr. Doch nun vernahm sie das »Tik-Tak« der Stutzuhr und ein anderes leichtes Geräusch, oder vielmehr ein fast kaum bemerkbares Sausen. Es war Mütterchens Taschenuhr die, vergessen in ihrem Kleide auf einem Stuhle, noch immer weiter ging. Und plötzlich brach der etwas verhaltene bittre Schmerz in ihrem Herzen aufs neue hervor, wie sie das kleine weitergehende Uhrwerk an die leblose Tote da auf dem Bette erinnerte.
Sie sah nach der Zeit. Es war halb elf. Eine furchtbare Angst, diese ganze Nacht da zuzubringen, ergriff sie.
Andere Erinnerungen tauchten vor ihren Augen auf: Aus ihrem eigenen Leben – Rosalie, Gilberte – die bitteren Enttäuschungen ihres Herzens. Alles war doch nur Elend, Trübsal, Unglück und Tod. Alles täuschte, alles log, brachte Leid und Tränen. Wo fand sich denn noch ein freundliches Ruheplätzchen? Im anderen Leben jedenfalls. Wenn die Seele vom Erdenstaub befreit war. Die Seele! Sie begann über dieses unerforschliche Geheimniss nachzugrübeln in dem sie sich plötzlich jenen poesievollen Träumereien hingab, wo eine Vorstellung der anderen folgt, ohne ein Bild zu schaffen. Wo weilte wohl jetzt die Seele ihrer Mutter? Die Seele, die zu diesem regungslosen eiskalten Körper gehört hatte? Wohl weit von hier. Irgendwo im unermesslichen Himmelsraume. Aber wo? Verflüchtet wie der Duft einer abgestorbenen Blume? Oder planlos umherschweifend wie ein unsichtbarer Vogel, der dem Käfig entschlüpft ist?
War sie zu Gott zurückgekehrt? Oder beliebig unter neuen Schöpfungen verstreut, mit Keimen vermischt, die zur Frucht heranreiften?
Ganz in ihrer Nähe vielleicht? Weilte sie etwa noch in diesem Zimmer, umkreiste sie den starren Körper, den sie verlassen? Johanna glaubte einen Hauch zu verspüren, wie die Berührung eines Geistes. Sie hatte Furcht, gewaltige Furcht, so heftig, dass sie sich kaum zu regen wagte; ihr Atem stockte, sie vermochte nicht sich umzuwenden, um hinter sich zu schauen. Ihr Herz pochte laut vor Entsetzen.
Plötzlich nahm der Schmetterling seinen unsichtbaren Flug wieder auf und begann rings an die Wände zu klatschen. Ein Schauer durchrieselte sie von oben bis unten; aber dann erkannte sie das Brummen des geflügelten Wesens wieder und beruhigte sich. Sie erhob sich und wandte sich um. Ihr Blick fiel auf den Schreibtisch mit den Sphinx-Köpfen, den Aufbewahrungsort der »Reliquien.«
Eine sonderbare zartfühlende Idee durchzuckte ihr Hirn. Sie wollte lesen, lesen in diesen der Toten so teuren Briefen, heute in der Stunde der letzten Nachtwache, wie sie ein frommes Buch gelesen haben würde. Es kam ihr vor, als erfülle sie eine süsse heilige Pflicht, einen Akt kindlicher Pietät, der der Toten drüben in der andren Welt Freude bereiten würde.
Es waren die alten Briefe ihrer Großeltern, die sie nicht gekannt hatte. Sie wollte ihnen über dem Körper der Tochter die Hand reichen, sich mit ihnen in dieser düstren Nacht vereinen, als hätten sie Teil an diesem Leid; sie wollte eine Art geheimnisvolle Zärtlichkeitskette bilden zwischen den Toten von damals, der stillen Leiche dort und ihr selbst, die noch auf Erden verblieben war.
Sie öffnete die Schreibtischplatte und entnahm der unteren Schieblade ein Dutzend der kleinen gelblichen Papierbündel, welche in musterhafter Ordnung nebeneinander lagen.
Mit einer Art wohlbedachter Sentimentalität breitete sie dieselben auf dem Bett zwischen den Armen der Toten aus und schickte sich an zu lesen.
Es waren jene ehrwürdigen Briefschaften, wie man sie in alten Familienschreibtischen findet; jene Briefschaften, die die Luft eines andren Jahrhunderts atmen.
»Meine Teure!« begann der erste Brief; auf einem zweiten stand »Mein liebes Töchterchen!« dann kam: »Mein Herzchen!« – »Mein angebetetes Töchterchen!« – Liebes Kind!« – »Liebe Adelaïde« – »Liebe Tochter«, je nachdem sie sich an das Kind, an die Tochter und später an die junge Frau richteten.
Und das alles atmete so viel leidenschaftliche Zärtlichkeit, so viel Liebe zum Kinde; es erzählte so viel große und kleine Geheimnisse, und dazwischen wieder allerhand Dinge, die dem Fernerstehenden gleichgültig waren: »Papa hat die Grippe; die Zofe Hortense hat sich den Finger verbrannt; die Katze ›Croquerat‹ ist tot; die Tanne rechts vom Tore ist gefällt worden; Mutter hat ihr Gebetbuch auf dem Rückweg von der Kirche verloren, sie glaubt dass es gestohlen ist.«
Auch von Leuten war darin die Rede, die Johanna zwar persönlich nicht gekannt hatte, deren Namen sie sich aber noch dunkel aus ihrer ersten Jugendzeit erinnerte.
Mit wahrer Zärtlichkeit vertiefte sie sich in diese Einzelheiten, welche ihr wie eine Art Totenerweckung vorkamen. Es war ihr, als trete sie plötzlich in die Vergangenheit ein, als sehe sie alle Geheimnisse, das eigentliche Herzensleben ihrer Mutter vor sich. Sie betrachtete wieder den Leichnam, und plötzlich begann sie ganz laut zu lesen; sie las für die Tote, als wolle sie ihr Zerstreuung und Tracht bringen.
Es kam ihr vor, als ob der Gesichtsausdruck der Verstorbenen ein glücklicher wäre.
Einen nach dem andren legte sie die Briefe zu Füssen des Bettes; sie meinte, man müsse sie statt der Blumen ihr in den Sarg mitgeben.
Sie öffnete ein neues Packet. Es war eine andere Schrift. СКАЧАТЬ