Название: Guy de Maupassant – Gesammelte Werke
Автор: Guy de Maupassant
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Gesammelte Werke bei Null Papier
isbn: 9783962817695
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Nach einer Stunde gestattete man ihr zurückzukehren. Jede Hoffnung war dahin. Das Schlafgemach war jetzt als Leichenzimmer eingerichtet. Julius und der Geistliche sprachen leise in einer Fensterecke. Die Witwe Dentu sass auf einen Sessel in ziemlich bequemer Haltung, wie eine Frau die an Nachtwachen gewöhnt ist und sich in einem Hause heimisch fühlt, sobald der Tod dort seinen Einzug gehalten hat; sie schien bereits eingenickt zu sein.
Die Nacht brach herein. Der Pfarrer trat auf Johanna zu, fasste sie bei der Hand, sprach ihr Mut ein und suchte durch geistige Tröstung einen heilsamen Balsam auf die Wunden ihres zerrissenen Herzens zu träufeln. Er sprach von der Dahingeschiedenen, er feierte sie in beredten Worten, und indem er einen Schmerz zur Schau trug, der seiner priesterlichen Auffassung vom Leben nach dem Tode nicht ganz entsprach, bot er sich an, die Nacht betend bei der Leiche zuzubringen.
Aber Johanna lehnte zwischen ihren strömenden Tränen dieses Anerbieten ab. Sie wollte allein sein, ganz allein in dieser schmerzlichen Abschiedsnacht. »Aber das geht doch nicht; wir wollen alle beide bleiben«, mischte sich Julius ein. Sie verneinte durch ein Kopfschütteln, unfähig ein Wort zu sprechen. »Es ist meine Mutter, meine einzige Mutter. Ich will allein mit ihr sein« sagte sie endlich. »Lassen Sie ihr den Willen;« mahnte der Doktor »die Wärterin kann im Nebenzimmer bleiben.«
Der Pfarrer und Julius fügten sich; beide waren müde. Nun kniete sich der Abbé Picot seinerseits nieder, betete, erhob sich und verabschiedete sich mit den Worten: »Es war eine Heilige« ungefähr als wenn er sein »Dominus vobiscum« sprach.
»Willst Du nicht etwas nehmen?« fragte Julius, der seine gewöhnliche Stimme wiedererlangt hatte. Johanna antwortete nicht; sie hatte gar nicht bemerkt, dass er sich zu ihr gewandt hatte. »Du würdest gut tun, etwas zu Deiner Stärkung zu nehmen« begann er wieder. »Schick nur schnell nach Papa« antwortete sie halb unwillig. Und er ging hinaus, um einen berittenen Boten nach Rouen zu schicken.
Sie blieb in einer Art regungslosen Schmerz versunken zurück, als hätte sie darauf gewartet, sich ganz der wogenden Verzweiflung in dieser Stunde des letzten Zusammenseins überlassen zu können.
Die Schatten der Nacht hatten sich auf das Gemach herabgesenkt und hüllten die Tote in Finsternis. Die Witwe Dentu trippelte auf den Fussspitzen umher und suchte nach allen möglichen Dingen, die sie mit der geräuschlosen Art einer Krankenwärterin hier und dort zurechtlegte. Dann zündete sie zwei Kerzen an und stellte sie leise auf den Nachttisch am Kopfende des Bettes, den sie mit einem weißen Tuche bedeckt hatte.
Johanna schien nichts zu sehen und nichts zu hören. Sie wartete darauf, allein zu sein. Julius kam zurück, nachdem er gegessen hatte. »Willst Du wirklich nichts zu Dir nehmen?« fragte er nochmals. Sie verneinte abermals durch ein Kopfschütteln.
Er setzte sich mehr resigniert wie traurig nieder, und wartete, ohne weiter zu sprechen.
So blieben sie alle drei, jedes für sich, auf ihren Plätzen.
Hin und wieder schnarchte die eingeschlafene Wärterin; dann erwachte sie plötzlich.
Julius erhob sich endlich und näherte sich Johanna. »Willst Du jetzt allein bleiben?« Sie ergriff mit einer unwillkürlichen Hast seine Hand und sagte: »Ach ja! lass mich allein.«
»Ich werde von Zeit zu Zeit nach Dir sehen«, murmelte er, sie auf die Stirn küssend. Und er ging mit der Witwe Dentu heraus, die ihren Sessel ins Nebenzimmer rollte.
Johanna schloss die Tür; dann öffnete sie weit die beiden Fenster. Mit vollen Zügen sog sie den Duft der draussen lagernden Heuernte ein. Es war gerade zurzeit, wo man den reichen Bestand der Wiesen abgemäht hatte, der nun unter dem vollen Mondlicht seinen würzigen Duft ausströmte.
Dieses süsse Empfinden machte ihr übel; es verletzte sie wie eine bittere Ironie.
Sie näherte sich wieder dem Bette, ergriff die eine leblose kalte Hand und betrachtete ihre Mutter.
Sie war nicht mehr so angeschwollen, wie im Augenblick des Unfalls und schien zu schlafen; viel friedlicher sogar, als es sonst bei ihr der Fall war. Die vom Luftzuge hin und herbewegten Kerzenflammen veränderten jeden Augenblick die Schatten auf ihrem Gesicht, sodass man hätte denken sollen, sie lebe und habe sich bewegt.
Johanna starrte sie unablässig an, während aus ihrer frühesten Jugendzeit eine Fülle von Erinnerungen auf sie einstürmte.
Sie rief sich Mütterchens Besuche im Sprechzimmer des Klosters vor Augen, die Art und Weise wie sie ihr die Düte voll Kuchen gab; eine Menge Einzelheiten, kleiner Ereignisse, Zärtlichkeitsbeweise, Worte, Redensarten, ständiger Gebärden, die Falten um ihre Augen beim Lachen, der tiefe erstickte Seufzer, mit dem sie sich niedersetzte, das alles kam ihr in Erinnerung.
Und so stand sie da im Anschauen versunken immer wieder die Worte »Sie ist tot« wie halb von Sinnen vor sich hermurmelnd. Erst allmähllich verstand sie den ganzen Umfang derselben.
Dieser Körper, der da ruhte – Mama – ihr Mütterchen – Madame Adelaide, war also tot. Sie würde sich nie mehr regen, nie mehr sprechen, nie mehr lachen, niemals mehr Papa gegenüber bei Tische sitzen. Sie würde nie mehr »Guten Morgen Jeannette« sagen. Sie war eben tot!
Man würde sie in einen Sarg legen und sie begraben, und dann war alles zu Ende. Man würde sie nicht mehr sehen. War das möglich? Hatte sie denn wirklich kein Mütterchen mehr? Dieses teure, traute Antlitz, in das sie geschaut von dem Augenblick an, wo sie die Augen geöffnet hatte, das sie geliebt von der Minute an, wo sie die Ärmchen ausbreiten konnte; dieser СКАЧАТЬ