Название: Guy de Maupassant – Gesammelte Werke
Автор: Guy de Maupassant
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Gesammelte Werke bei Null Papier
isbn: 9783962817695
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I.
Johanna hatte ihren Koffer gepackt und näherte sich jetzt dem Fenster. Es regnete unaufhörlich. Die ganze Nacht über hatte das Unwetter gegen Dächer und Fenster geklatscht. Es schien, als ob alle Schleussen des dichtbewölkten Himmels geöffnet seien, um mit dem herabströmenden Wasser den Erdboden aufzuweichen, der sich allmählich in eine breiige Masse verwandelte. Hin und wieder fuhr ein lauer Windstoss heulend durch die Luft. In den menschenleeren Strassen ertönte das Geklapper schlecht befestigter Jalousien. Die Häuser sogen die Feuchtigkeit wie Schwämme auf, und bei der lauen Luft schwitzten ihre Mauern vom Keller bis zum Dachfirst.
Johanna, die soeben der strengen Zucht der Klosterpension entschlüpft war, um in die große Welt einzutreten, deren Glück und Freuden sie sich schon seit Langem in tausend Farben ausgemalt hatte, fürchtete, das schlechte Wetter werde ihren Vater von der baldigen Abreise zurückhalten. Schon zum hundertsten Male prüfte sie heute Morgen das Aussehen des Himmels.
Dann fiel ihr ein, dass sie vergessen hatte, ihren Kalender in die Reisetasche zu packen. Sie nahm den kleinen Karton, auf welchem die zwölf Monate nebeneinander verzeichnet waren und in dessen Mitte sich ein Bildchen mit der goldgedruckten Jahreszahl 1819 befand, von seinem Platze. Dann fuhr sie langsam mit dem Bleistift die vier ersten Reihen entlang und durchstrich so jeden Tag bis zum 2. Mai, dem Datum ihres Austritts aus dem Kloster.
Eine Stimme an der Tür rief: »Johanna!«
»Komm herein, Papa!« antwortete sie, worauf derselbe die Tür öffnete.
Der Baron Sigmund Jakob Le Perthuis des Vauds war die vollendete Erscheinung eines Edelmannes aus dem vorigen Jahrhundert, mit allen Fehlern und Vorzügen eines solchen. Ein leidenschaftlicher Anhänger J. J. Rousseaus, liebte er schwärmerisch die Natur, Feld, Wald und Tiere.
Aristokrat von Geburt, hegte er einen instinktiven Hass gegen alles, was mit dem Jahre 1793 zusammenhing; aber Philosoph aus Neigung und liberal in Folge seiner Erziehung, trug er einen harmlosen und theatralischen Abscheu gegen die Tyrannei zur Schau.
Sein grösster Vorzug aber auch zugleich seine grösste Schwäche war seine Herzensgüte, die nicht Hände genug fand, um wohlzutun, um zu lindern und zu trösten, wie die alles umfassende, alles überwindende Güte des Schöpfers gegen seine Geschöpfe. Sie war ihm zur zweiten Natur geworden und bildete die Triebfeder all’ seines Handelns. Man hätte sie als seine Leidenschaft bezeichnen können.
Als Mann der Theorie sann er unaufhörlich über einen Erziehungsplan für seine Tochter nach; er wollte sie glücklich, edel, rechtschaffen und weich von Gemütsart sehen.
Sie war bis zum zwölften Jahre im Elternhause geblieben; dann wurde sie, trotz der Tränen ihrer Mutter, ins Sacré-Coeur gebracht.
Dort verlebte sie ihre Zeit in strenger klösterlicher Zucht, unbekannt für jedermann und fern von dem Treiben der Welt. Der Vater wollte, dass sie ihm mit dem siebzehnten Lebensjahre rein und unbefleckt zurückgegeben würde. Er betrachtete den Aufenthalt im Kloster bei seinem poesievollen Gemüte wie ein reinigendes stärkendes Bad, nach dessen Gebrauch er dann selbst ihre kindliche Seele inmitten der freien Gottesnatur, umgeben von grünenden Wäldern und fruchtbaren Äckern, beim Anblick der harmlosen Geschöpfe, die sie belebten, der Liebe des Schöpfers erschliessen wollte.
Jetzt verliess sie das Kloster strahlend vor Lebenslust mit einem unbestimmten Verlangen nach Glück, und begierig auf alle Freuden, auf alle heiteren Geschenke des Zufalls, welche ihr die Fantasie in ihren Musestunden und in schlaflosen Nächten vorgezaubert hatte.
Sie schien wie ein Porträt von Veronese mit ihrem glänzenden Blondhaar, welches gleichsam mit ihrer Haut zu verschwimmen schien, einer echten, kaum von einem rosigen Schimmer angehauchten Aristokratenhaut. Ein leichter Flaum, den man nur bemerkte, wenn die Sonne sie umstrahlte, bedeckte diese Haut wie ein duftiger Schleier. Ihre Augen waren blau, von jenem undurchsichtigen Blau, wie es die Porträts der alten Holländischen Schule aufweisen.
Auf dem linken Nasenflügel und ebenso rechts am Kinn hatte sie ein kleines Schönheitsmal, aus denen einige Härchen sprossten, die man kaum bemerken konnte; so sehr ähnelten sie der Farbe ihrer Haut. Sie war ziemlich groß, hatte eine entwickelte Büste und eine schlanke Taille. Ihre helle Stimme mochte zuweilen etwas scharf erscheinen; aber ihr munteres Lachen wirkte geradezu ansteckend. Sie hatte die Angewohnheit, beide Hände zuweilen an die Schläfen zu legen, als wollte sie ihre Haare glätten.
Jetzt stürzte sie auf ihren Vater zu, küsste ihn und sagte schmeichelnd:
»Nun, fahren wir?«
Er lächelte, schüttelte das schon ergraute Haupt und entgegnete, mit der Hand zum Fenster hinaus deutend:
»Wie kann man denn bei solchem Wetter reisen?«
Aber sie begann ihn von Neuem mit allerlei zärtlichen Schmeicheleien zu bitten:
»Ach, Papa, lass uns doch fahren, ich bitte Dich. Es wird diesen Nachmittag sicher ganz schönes Wetter.«
»Aber Deine Mutter wird es niemals zugeben.«
»Das lass mich besorgen, ich verspreche es Dir.«
»Nun, an mir soll es nicht liegen, wenn Du Mama dazu bringst.«
Sofort stürzte sie nach dem Zimmer der Baronin. Denn sie hatte mit stets wachsender Ungeduld auf diesen Tag der Abreise gewartet.
Seit ihrem Eintritt ins Pensionat war sie nicht von Rouen fortgekommen, da der Vater vor dem festgesetzten Alter keine besondre Zerstreuung erlaubte. Nur zweimal in der ganzen СКАЧАТЬ