Название: Eine große Zeit
Автор: William Boyd
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783311701705
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»Sie sind es ja tatsächlich, Mr Lysander Rief. Ich kann es gar nicht glauben!«, rief sie und führte ihn in das Atelier.
Die alte Scheune war zu einer geräumigen, fenster- und deckenlosen Bildhauerwerkstatt umgebaut worden. Man hatte einen großen Teil des Ziegeldachs durch Glasscheiben ersetzt. In einer Ecke stand ein großer, breiter Gusseisenofen mit einem hohen, schmalen Rauchrohr, das mehrfach gewinkelt bis zum Dach reichte. Tapeziertische reihten sich an einer Wand entlang, bedeckt mit Brettern und Töpfen und Holzblöcken von unterschiedlicher Größe. An einem Ende stapelten sich Innengerüste aus gebogenem Draht. In einer anderen Ecke befand sich eine Sitzgruppe – vier Rohrsessel um einen niedrigen Tisch mit bunter Decke und einem Krug Anemonen. Mitten im Raum stand auf einem hohen Drehbock die grobe, etwa neunzig Zentimeter große Tonskulptur eines kauernden Minotaurus – ein stumpfer Rinderkopf mit stummelartigen Hörnern, der einem massigen, muskulösen Leib aufgesetzt war. Daneben stand ein Podest, mit einem eigens zugeschnittenen Teppichstück ausgelegt. Lysander sah sich um.
»Wunderbares Licht«, sagte er im Glauben, dies sei die passende Bemerkung beim Betreten eines Künstlerateliers.
Als Miss Bull ihren Kittel ablegte, kamen eine cremeweiße Muselinbluse und ein wadenlanger schwarzer Sergerock zum Vorschein. An den Füßen trug sie Holzschuhe. Ihre zerzausten dunklen Haare waren nachlässig hochgesteckt, mit etlichen langen losen Strähnen. Nirgends waren Gemälde zu sehen.
»Arbeitet Hoff auch hier?«, fragte Lysander.
»O nein. Wir wohnen auf der anderen Seite des Feldes, einen knappen Kilometer entfernt. Udos Familiensitz. Wir haben versucht, zu zweit in seinem Atelier zu arbeiten, aber das war eine Katastrophe – wir haben uns nur gestritten. Darum habe ich diese alte Scheune gemietet und halbwegs instandgesetzt.« Sie deutete nach oben. »So habe ich vernünftiges Licht.« Dann zeigte sie auf eine Tür am hinteren Ende. »Dort ist ein Schlafzimmer, falls ich mich zwischendurch mal hinlegen möchte, außerdem noch eine kleine Küche. Der Donnerbalken ist draußen hinterm Haus.«
»Sehr hübsch.« Er korrigierte sich: »Perfekt.«
»Trinken Sie einen Madeira mit.« Sie ging zu den Tapeziertischen und schenkte den Wein in zwei kleine Bechergläser ein. Lysander folgte ihr, und sie stießen miteinander an, ehe sie tranken. Eigentlich mochte er keinen Likörwein – Sherry, Porto und dergleichen – und spürte über einem Auge sofort die ersten Anzeichen leichter Kopfschmerzen.
»Beeindruckend.« Er wies auf den kauernden Minotaurus.
»Ich werde ihn in Bronze gießen«, sagte Miss Bull. »Falls ich es mir leisten kann. Dafür hat Udo Modell gestanden – nie wieder. Dieses ewige Gejammer. Während ich ständig nackt für ihn posiere. Das ist einfach ungerecht.« Sie stellte ihr Glas ab und nahm einen großen Skizzenblock sowie ein Stück Zeichenkohle in die Hand. »Also, was meinen Sie – wollen wir mit der Arbeit anfangen?«
»Soll ich mich auf das Podest stellen?«
»Ja. Aber Sie müssen sich erst ausziehen.«
Lysander lächelte reflexartig, er hielt das für einen von Miss Bulls typischen zweideutigen Scherzen.
»Ausziehen?«, sagte er. »Sehr witzig.«
»Meine Skulpturen handeln von nackten Körpern. Es hätte also keinen Sinn, Sie in Ihren Kleidern zu zeichnen.« Lächelnd zeigte sie auf die Tür am hinteren Ende des großen Raums. »Sie können sich dort ausziehen.«
»Gut. Schön.«
Das Schlafzimmer war klein und schlicht mit weiß getünchten Wänden und einem rauen Dielenboden, auf dem ein Flickenteppich lag. Es gab ein schmales Eisenbett mit einer braunen Decke und eine Kommode mit einem einfachen Waschkrug samt Schüssel. Auf dem Brett des kleinen Fensters, das auf einen unkrautüberwucherten Gemüsegarten hinausblickte, stand ein Einmachglas mit getrockneten Gräsern, das einzig Persönliche in diesem Raum.
Lysander blieb unschlüssig in der Mitte stehen. Was wurde hier eigentlich gespielt? Kurz überlegte er, ob er nicht einfach die Tür öffnen, hinaustreten und Miss Bull mitteilen sollte, er könne ihrem Wunsch nicht entsprechen und müsse nun dringend gehen. Er wusste jedoch, dass Miss Bull ihn dafür verachten würde. Und er wollte nicht, dass sie ihn für einen Schnösel oder verklemmten Wichtigtuer hielt. Er schob seine Zweifel beiseite und begann, sich auszuziehen.
Als er nur noch in Strümpfen und Unterhose dastand, verursachte ihm die Kühnheit seines Unterfangens ein gewisses Prickeln. Er warf einen Blick auf seine Sachen, die ordentlich auf dem Bett abgelegt waren. Letzte Chance. Er streifte seine Strümpfe ab und zupfte an der Bundschleife. Kaum war die Unterhose gefallen, wurde ihm im Lendenbereich kalt. Neben der Kommode hing ein Handtuch, das band er sich um die Hüfte und kehrte ins Atelier zurück. Miss Bull saß in einem Rohrsessel, den sie näher an das Podest herangeschoben hatte. Sie streckte ihm etwas entgegen, das wie eine kleine Lederschleuder aussah.
»Ist mir eben erst eingefallen. Vielleicht hätten Sie lieber ein Cachesexe? Mir ist es egal.«
»Aber nein. Au naturel – macht für mich keinen Unterschied.«
Er stieg auf das Podest, spürte den kratzigen Teppich unter seinen Fußsohlen und merkte, dass ihm das Herz auf einmal bis zum Hals schlug.
»Ich wäre dann so weit«, sagte Miss Bull ruhig.
Er ließ das Handtuch fallen und richtete den Blick auf das rußige Rohr, das ihm gegenüber aus dem Ofen ragte, dann hörte er nur noch das hurtige Kratzen der Zeichenkohle auf Miss Bulls Skizzenblock. Er straffte die Schultern und nahm sich erneut vor, sich endlich zu entspannen. Er war zwar nicht besonders groß, aber er wusste, dass er dank seiner schmalen Hüften und breiten Schultern eine gute Figur hatte – jedenfalls überhäufte ihn sein Schneider stets mit Komplimenten. »Das klassische männliche Schönheitsideal, Mr Rief. Sie sollten mal meine anderen Kunden sehen. Ein Bild des Jammers!«
»Könnten Sie sich ganz leicht nach links drehen? Wunderbar.«
Lysander drehte sich und versuchte, sich als griechischen Olympioniken zu sehen, als Diskuswerfer oder Speerschleuderer, der entkleidet zu den Spielen antrat. Wozu machte man überhaupt so viel Aufhebens vom nackten menschlichen Körper? Allein im Bereich der Kunst war er im Übermaß vertreten – man denke nur an die Akte, die seit jeher gemalt wurden, die unbekleideten Statuen in öffentlichen Parks, Michelangelos David, die unzähligen Venusbilder und Götter und Gladiatoren mit entblößtem Hintern. Er atmete tief ein und ließ seine Finger leicht über die Oberschenkel streifen. Entspann dich, entspann dich, entspann dich.
»Könnten Sie die Hände in die Hüften stemmen?«
Das tat er und kniff dabei unwillkürlich die Pobacken zusammen, plötzlich von der Vorstellung ernüchtert, dass Udo Hoff sein Atelier verlassen und das Feld durchqueren könnte, um bei seiner Geliebten nach dem Rechten zu sehen … Daran darfst du gar nicht denken. Lass dir eine Parallelwelt einfallen, deine Parallelwelt … Er blendete sämtliche Gedanken aus.
Er hörte die Sesselbeine kurz über den Boden schleifen und СКАЧАТЬ