Название: Eine große Zeit
Автор: William Boyd
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783311701705
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13 Autobiographische Untersuchungen
Als Gott den Mann vollbracht
Und die Frau, mit mehr Bedacht,
Blieb noch Staub übrig ohne Behuf
Daraus er den Minenarbeiter erschuf.
Minenarbeiter – Bergmann, der keine Gipfel erklimmt
Minenarbeiter – Bildhauer der Unterwelt
Minenarbeiter – Segler der Erdadern (?)
Minenarbeiter – Jäger/Sammler/Schatzsucher/ Raubbauer
Mit der ersten Strophe bin ich gar nicht mal so unzufrieden. Danach weiß ich nicht weiter.
Miss Bull. Ein Bulle von Kerl – Udo Hoff. Bulle Rammbock Stier. Stierkämpfer. Matador. Bolerojäckchen. Weißes Hemd mit Krawatte. Bulle gegen Bulle.
»Glückliche Menschen sind niemals brillant. Kunst setzt Reibung voraus.« Von wem war das? So ein Quatsch. Kunst ist das Streben nach einer Form von Harmonie und Integrität. Ein harmonisches, durch und durch integres Leben ist demnach künstlerisch wertvoll. Quod erat demonstrandum.
Traum. Während ich mich rasierte, wurde mein Gesicht im Spiegel zum Gesicht meines Vaters. Wie geht’s dir, Sohn?, fragte er. Mir geht’s gut, Vater, sagte ich. Du fehlst mir. Dann tritt doch durch den Spiegel und komm zu mir, sagte er, na los, mein Junge. Ich berührte den Spiegel und sein Gesicht wurde wieder zu meinem.
Ich weiß noch, dass Blanche und ich uns einmal gestritten haben, weil sie mir eine mit Bleistift verfasste Nachricht hinterlassen hatte. Ich war der Meinung, es zeuge von einem Mangel an Respekt – als würde sie bloß eine Einkaufsliste hinkritzeln, anstatt mir zu schreiben, jemandem, den sie liebte. Das gehörte sich nicht. Sie nannte mich einen dämlichen arroganten Korinthenkacker. Und sie hatte vollkommen recht – manchmal denke ich, dass Pedanterie und Arroganz zu meinen schlimmsten Fehlern zählen. Arroganz vielleicht nicht, aber dieser Hang, sich über Kleinigkeiten aufzuregen, die absolut belanglos sind.
Große Schauspielkunst heißt, dass man in der Lage ist, »Reich mir mal bitte das Salz« zu sagen, ohne sich komisch oder sonderbar oder dämlich oder unheilvoll anzuhören. Große Schauspielkunst heißt, dass man in der Lage ist, »O Grausen, Grausen, Grausen!« zu sagen, ohne sich komisch oder sonderbar oder dämlich oder unheilvoll anzuhören.
Leben ist mehr als Liebe. Und jetzt andersherum. Liebe ist mehr als Leben. Ergibt genauso viel Sinn. Allerdings nicht, wenn man Liebe mit geschlechtlicher Liebe gleichsetzt. Leben ist mehr als geschlechtliche Liebe. Geschlechtliche Liebe ist nicht mehr als das Leben. Stimmt. Hatte Dostojewski nicht etwas Ähnliches gesagt? Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen, und so kann es auch keinen einzigen einfachen Gedanken geben. Jeder Gedanke, und sei er noch so einfach, kann immer wieder relativiert werden. Ich habe Kopfschmerzen – weil ich mit Wolfram zu viel Schnaps getrunken habe, er hat mich zum Lachen gebracht. Auch der schlichte Kopfschmerz hat eine Geschichte, eine Penumbra, steht im Zusammenhang mit meinem Leben davor und (hoffentlich) meinem Leben danach. Alles ist unfassbar kompliziert. Wirklich alles.
14 Die Fabulierfunktion
»Ich habe Ihr Büchlein gelesen«, sagte Lysander und streckte sich auf dem Diwan aus. »Hochinteressant. Ich glaube, ich habe das Prinzip verstanden. Mehr oder weniger.«
»Es geht vor allem darum, die eigene Vorstellungskraft einzusetzen«, antwortete Dr. Bensimon. »Heute werde ich die Vorhänge schließen, wenn Sie nichts dagegen haben.«
Lysander hörte ihn die Vorhänge an allen drei Fenstern zuziehen, und dann wurde das Zimmer dunkel und schummrig, nur noch von der Lampe auf Bensimons Schreibtisch beleuchtet. Als der Arzt zu seinem Stuhl zurückkehrte, huschte sein gewaltiger Schatten über die Wand neben dem Kamin.
Nach allem, was Lysander verstanden hatte, besagte Bensimons Parallelismus-Theorie, dass die Wirklichkeit an sich neutral war – »karg« war sein wiederkehrender Ausdruck. Ohne die Wahrnehmung durch unsere Sinne war die Welt nichts als ein Skelett, armselig, ohne jede Regung. Sobald wir die Augen öffneten, sobald wir anfingen zu riechen, zu hören, zu berühren und zu schmecken, verliehen wir den Knochen Fleisch, entsprechend unserem Charakter und der Wirksamkeit unseres Vorstellungsvermögens. So verwandelt das Individuum »die Welt« – im Geist webt es seine eigene bunte Decke, die es über die neutrale Wirklichkeit breitet. Diese Welt wird von uns jeweils als eine »Fiktion« erschaffen, sie gehört nur uns allein, sie ist einzigartig und man kann sie mit keinem anderen teilen.
»Mir kommt der Gedanke, dass die Welt ›fiktiv‹ sein soll, ein wenig problematisch vor«, sagte Lysander zögerlich.
»Aber das liegt auf der Hand«, entgegnete Bensimon. »Sie wissen doch, wie sich das anfühlt, wenn Sie gut gelaunt aufwachen. Die erste Tasse Kaffee schmeckt besonders köstlich. Und wenn Sie spazieren gehen, nehmen Sie die Farben wahr, die Klänge, Sie genießen den Anblick eines Sonnenstrahls auf einer alten Ziegelmauer. Wenn Sie hingegen lustlos und traurig aufwachen, haben Sie keinen Appetit. Ihre Zigarette schmeckt bitter und kratzt in der Kehle. Unterwegs reizt Sie das Scheppern der Tram, die Passanten sind hässlich und rücksichtslos. Und so weiter. Das Ganze passiert, ohne dass wir einen Gedanken daran verschwenden – und ich versuche, diese Fähigkeit, die wir alle in uns tragen, ins Bewusstsein zu rücken, sie uns vor Augen zu führen.«
»Verstehe.« So betrachtet, fand Lysander das durchaus nachvollziehbar.
Bensimon fuhr fort: »Und so ergänzen wir menschliche Wesen die Welt mit dem, was der französische Philosoph Bergson la fonction fabulatrice nennt. Die Fabulierfunktion. Kennen Sie Bergsons Schriften?«
»Äh, nein.«
»Ich habe diesen Gedanken gewissermaßen von ihm übernommen und aufbereitet. Die Welt, unsere Welt, stellt für jeden von uns eine einzigartige Verbindung – Vermischung, Verschmelzung – von individueller Vorstellung und Wirklichkeit dar.«
Lysander schwieg, den Blick auf das Flachrelief über dem Kamin gerichtet, und fragte sich, wie der Parallelismus ihn von seiner Anorgasmie heilen könnte.
Bensimon ergriff wieder das Wort. »Sie kennen doch das alte Sprichwort: ›Die Götter Afrikas sind immer Afrikaner.‹ Das ist die Fiktion, die der afrikanische Geist ersonnen hat – seine ureigene Verbindung von Vorstellung und Wirklichkeit.«
Das erklärte vielleicht das Flachrelief, dachte Lysander.
»Dieses Beispiel leuchtet mir ein«, sagte er, noch auf der Hut. »Ein afrikanischer Gott kann sicher kein Chinese sein. Aber wie soll man das auf mein spezielles Problem anwenden?«
Lysander hörte, wie Bensimon seinen Stuhl vom Schreibtisch wegzog und am Fußende des Diwans abstellte. Hörte das Leder knarren, als er sich setzte.
»Genau so«, antwortete Bensimon. »Wenn unsere Alltagswelt, unsere alltägliche Wirklichkeit eine selbstgeschaffene Fiktion ist, gilt das auch für unsere Vergangenheit – sie besteht aus lauter fiktiven Begebenheiten, die wir bereits durchlebt haben –, für unsere Erinnerungen. Ich würde Sie СКАЧАТЬ