Eine große Zeit. William Boyd
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Название: Eine große Zeit

Автор: William Boyd

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9783311701705

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СКАЧАТЬ und sang eine nicht enden wollende Tenorarie – gefühlte zwanzig Minuten –, während Andromeda in höchster Gefahr schwebte. Hinter den Kulissen jaulte und schrie die Sopranistin. Eine einzige Kakofonie, anders kann man das nicht nennen.«

      »Was war denn so unschicklich an Miss Bulls Verkörperung der Andromeda?«, fragte Lysander neugierig.

      »Sie war splitterfasernackt.«

      »Oh. Verstehe. Dann …«

      »Nun ja, sie hatte so einen halb durchsichtigen Gazestreifen um. Dennoch blieb der Phantasie nichts überlassen.«

      »Ganz schön mutig.«

      »An Wagemut fehlt es unserer Miss Bull nicht. Aber Sie können sich den Skandal vorstellen. Das Getöse. Das Theater wurde geschlossen, jedes Plakat in Fetzen gerissen. Dem armen Toller wurde alles Mögliche zur Last gelegt – Sittenlosigkeit, Obszönität, Pornographie. Sie haben ihn jedes erdenklichen Verbrechens bezichtigt.« Bensimon zuckte mit den Schultern. »Und so hat er sich eben umgebracht.«

      »Wie bitte?«

      »Ja. Er hat sich gleich an Ort und Stelle aufgehängt – in der Hölle. Ein höchst dramatischer Abgang. Und traurig, natürlich.«

      Beide ließen das Plakat eine Weile stumm auf sich wirken. Die Ähnlichkeit mit Miss Bull war unbestreitbar, wie Lysander nun erkannte, als er nicht mehr Andromedas nackten Körper, sondern ihr Gesicht betrachtete.

      »Ich muss jetzt los«, erklärte Bensimon. »Zu einem hochoffiziellen Diner, darum habe ich mich so in Schale geworfen. Dutzende von Ärzten, ich kann mein Glück kaum fassen. Haben Sie Miss Bull schon gesehen?«

      »Nein«, sagte Lysander. Sie blickten sich im überfüllten Saal um. Plötzlich sah er sie – ihre zierliche kleine Gestalt. »Da ist sie.« Er zeigte in ihre Richtung.

      »Wir sollten ihr Guten Tag sagen«, regte Bensimon an, und sie bahnten sich einen Weg quer durch den Raum.

      Miss Bull war von drei Männern umgeben. Lysander stellte fest, dass sie eine kirschrote Pluderhose im Haremstil trug, ein Bolerojäckchen aus schwarzem Satin mit Strassknöpfen sowie einen Kragen mit Krawatte. Ihre Haarmassen hatte sie mit unzähligen Schildpattkämmen locker aufgesteckt. Von ihrer Schulter hing eine kleine bestickte Tasche an einer geflochtenen Kordel, die ihr fast bis zu den Knien reichte. Als sie sich umdrehte, um ihn und Bensimon zu begrüßen, hörte Lysander in Bodennähe ein leises Klimpern und senkte den Blick: An ihre Schuhspitzen waren silberne Glöckchen genäht. Bensimon verabschiedete sich und ging. Miss Bull wandte sich Lysander zu. Diese riesigen braungrünen Augen.

      »Wie finden Sie Udos Bilder?«, fragte sie.

      »Sie gefallen mir. Sehr. Wirklich.«

      Miss Bull starrte ihn eindringlich an, schien aber in ruhiger, stabiler Verfassung zu sein. Vielleicht hatte sie erneut Dr. Bensimons Medizin eingenommen. Das Jäckchen mit dem Kragen und der Krawatte verlieh ihr etwas Androgynes.

      »Das müssen Sie ihm schon selbst mitteilen«, sagte sie und schritt mit klingelnden Füßen auf einen Mann zu, der wenige Meter entfernt stand, im Gespräch mit zwei Frauen, die große Schlapphüte trugen. Sie berührte seinen Ellbogen und führte ihn zu Lysander.

      »Udo Hoff – Mr Lysander Rief.«

      Er schüttelte dem Künstler die Hand. Hoff war ein stark untersetzter, stämmiger Mann in den Dreißigern, kleiner als Lysander, mit ungeheuer breiter Brust und breitem Kreuz, rasiertem Schädel und rotbraunem Spitzbart. Er wirkte übertrieben muskulös, wie ein Zirkus-Kraftmensch, als könnten seine gespannten Hemdknöpfe jederzeit platzen. Sein Stiernacken sprengte schier den Kragen.

      »Mr Rief lässt sich auch von Dr. Bensimon behandeln«, erklärte Miss Bull. »So haben wir uns kennengelernt.«

      Lysander wünschte, das hätte sie für sich behalten, weil Hoff ihn nun feindselig von Kopf bis Fuß musterte und sich ein gewisser Hohn auf seinem Gesicht abzeichnete.

      »Aha, die Wiener Kur«, sagte er. »Ist das in London etwa der letzte Schrei?« Er hatte eine gute englische Aussprache.

      »Nein, keineswegs«, wehrte Lysander ab. Der Mann war offensichtlich darauf aus, ihn zu provozieren. Also würde er seinen Charme spielen lassen. Sich von seiner angenehmen und erfreulichen Seite zeigen. Frau K wäre stolz auf ihn.

      »Ich bewundere Ihre Arbeit wirklich sehr. Starke Bilder. Absolut fesselnd.«

      Hoff wedelte mit der Hand, als wollte er eine lästige Fliege verscheuchen.

      »Wie gefällt Ihnen unsere Stadt?«, fragte er tonlos.

      Lysander überlegte, ob das wohl ein Scherz oder eine Fangfrage war. Er entschied sich, die Frage ernst zu nehmen.

      »Sehr gut. Als ich vorhin auf dem Weg hierher den Ring entlangging, war ich wieder zutiefst beeindruckt. Die Bauten sind einfach grandios, und das Ganze so großzügig angelegt wie sonst in keiner –«

      »Sie mögen den Ring?«, fragte Hoff zweifelnd.

      »Und wie. Ich finde ihn –«

      »Sie wissen aber, dass diese Gebäude praktisch neu sind? Keines zählt mehr als ein paar Jahrzehnte, wenn überhaupt.«

      »Meinen Reiseführer habe ich aufmerksam geles-«

      Da bohrte Hoff ihm doch tatsächlich einen Finger in den Arm, mit zerquältem Stirnrunzeln und zirkumflexartig erhobenen Augenbrauen.

      »Ich verabscheue den Ring«, sagte Hoff mit leicht bebender Stimme. »Der Ring ist eine groteske Zurschaustellung bourgeoisen Größenwahns. Er ist eine Beleidigung fürs Auge, ein Verstoß gegen Anstand, Ehre und Tradition. Ich kann seinen Anblick nicht ertragen. Neue Bauten, die als altehrwürdige Monumente posieren. Eine Schande. Wir Wiener Künstler sind uns ständig dieser Schande bewusst.« Er stieß Lysander noch einmal an, wie um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, und ging weg.

      »Du liebe Zeit … tut mir leid«, sagte Lysander zu Miss Bull. »Ich hatte ja keine Ahnung, dass dieses Thema so heikel ist.«

      »Es ist nun mal so, das Künstlervölkchen darf dem Ring auf keinen Fall etwas abgewinnen«, erwiderte sie. Mit gesenkter Stimme fügte sie hinzu: »Obwohl ich das durchaus tue.«

      »Ja, ich auch. In London haben wir nichts Vergleichbares.«

      Sie hob den Kopf, um ihn anzusehen. Eine richtige Kindfrau, dachte Lysander, ich könnte sie ohne Weiteres auf dem Arm tragen.

      »Wann kann ich Sie porträtieren?«, fragte Miss Bull. »Sie bleiben doch noch eine Weile in der Stadt?«

      »Ich denke schon. Mit Dr. Bensimon lässt es sich recht gut an – und so bin ich bestimmt noch einen Monat da, mindestens.«

      »Dann schauen Sie doch mal nachmittags in meinem Atelier vorbei, damit ich zur Vorbereitung ein paar Skizzen anfertigen kann.« Sie wühlte in ihrem Täschchen herum und kritzelte eine Adresse auf einen Fetzen Papier.

      »Es liegt etwas außerhalb. Sie können mit der Bahn nach Ottakring fahren und vom Bahnhof aus laufen. Beim ersten Mal nehmen Sie zur Sicherheit vielleicht lieber einen Fiaker. Wie wäre es mit Montag um vier?«

      »Also СКАЧАТЬ