Eine große Zeit. William Boyd
Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Eine große Zeit - William Boyd страница 15

Название: Eine große Zeit

Автор: William Boyd

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9783311701705

isbn:

СКАЧАТЬ einem neuerlichen Ausbruch des Redners johlte die Menge laut auf.

      »Die haben ja keine Ahnung«, schimpfte der Umhangträger. »Nichts als leere Worte, heiße Luft.«

      »Politiker«, sagte Lysander und verdrehte demonstrativ die Augen. »Alle gleich. Worte sind ja wohlfeil.« Nun fiel ihm auf, dass er allmählich Blicke auf sich zog. Wer war wohl dieser herausgeputzte junge Mann mit der getüpfelten Krawatte, der sich mit dem Irren unterhielt? Zeit zu gehen. Er ließ die Gruppe von Minenarbeitern hinter sich – schwarze Troglodyten, die ihren unterirdischen Höhlen entstiegen waren, um die moderne Metropole zu entdecken. Lysander spürte auf einmal die Idee zu einem Gedicht in sich heranreifen.

      Die Bosendorfer-Renz-Galerie lag in einer Seitenstraße des Graben. Lysander verharrte zunächst in einiger Entfernung, um sich zu vergewissern, dass tatsächlich Besucher hineingingen – die Anwesenheit von anderen würde ihm die nötige Sicherheit geben. Mit gezückter Einladung trat er auf die Tür zu, doch offenbar überprüfte niemand die Identität der Gäste, und so steckte er sie wieder ein und folgte einem älteren Ehepaar in Räumlichkeiten, die eher nach Antiquitätenladen als nach Kunstgalerie aussahen. Im kleinen Schaufenster standen ein paar aufwendig geschnitzte Stühle und ein holländisches Stillleben auf einer Staffelei (Äpfel, Trauben und Pfirsiche, dazu die unvermeidliche, effektvoll platzierte Fliege). Hinter dem ersten Raum lockte ein hell erleuchteter Durchgang, aus dem ein zunehmendes Stimmengewirr drang. Lysander holte tief Luft und steuerte darauf zu.

      Es war ein großer Saal mit hoher Decke, womöglich eine umgewidmete Lagerhalle, von drei elektrischen Kronleuchtern erhellt. Lang gezogene Trennwände aus Holz, auf kleine Räder montiert, unterteilten den Raum. Es herrschte rege Betriebsamkeit, vierzig bis fünfzig Gäste waren bereits eingetroffen, wie Lysander erfreut zur Kenntnis nahm – er konnte sich in der Menge verlieren. Hoffs Leinwände hingen von einer hohen Bildleiste herab; hier und da waren kleine Skulpturen und Maquetten auf schmale, brusthohe Plinthen verteilt. Er nahm sich vor, einen schnellen Rundgang zu machen, Miss Bull zu grüßen, Hoff zu gratulieren und nach getaner Pflicht in die Nacht zu entschwinden.

      Auf den ersten Blick wirkte Hoffs Werk konventionell und mittelmäßig – Landschaften, Stadtansichten, das eine oder andere Porträt. Bei näherem Hinsehen entdeckte Lysander jedoch die eigenartigen, ausgeklügelten Lichteffekte. Eine Wiese mit Waldhintergrund schien in strahlendes Bogenlicht getaucht, die tiefschwarzen, messerscharf konturierten Schatten verliehen dem an sich banalen Motiv einen düsteren, apokalyptischen Anstrich, sodass man sich unwillkürlich fragte, welches lodernde Himmelslicht das unheimliche Leuchten hervorrief. Eine Sahara-Sonne, die auf ein nordeuropäisches Tal herabbrannte. Auf einem anderen Bild war der Sonnenuntergang so grell dargestellt, dass der Himmel in Verwesung begriffen schien. Bei einer Stadtansicht – Dorf im Schnee – fiel Lysander plötzlich auf, dass zwei Häuser weder Türen noch Fenster hatten und die Kirchturmspitze nicht mit einem Kreuz, sondern mit einem kreisrunden O versehen war. Welche Geheimnisse barg dieses harmlose kleine Dorf?

      Während Lysander sich im Ausstellungsraum umsah und nach diesen wirkungsvollen Störzeichen Ausschau hielt, stellte er fest, dass Hoffs subtil abweichende, zutiefst beunruhigende Sicht der Dinge ihn immer mehr beeindruckte. Die umfänglichste Arbeit war das lebensgroße Bild einer stark geschminkten Frau, die einen bestickten Kaftan trug und in einem Sessel saß: Porträt von Fräulein Gustl Cantor-De Castro. Auf den zweiten Blick zeigte sich, dass ihr Kaftan im Schoß aufgeknöpft war, sodass ihre Scham zum Vorschein kam. Die Pfeilspitze aus dunklem Haar hatte zunächst wie ein Teil des dekorativen Friesmusters auf dem reich bestickten Kaftan ausgesehen. Als Lysander bewusst wurde, was er da in Wirklichkeit betrachtete, war er zunächst aufrichtig schockiert. Der ausdruckslose Blick der hartgesichtigen Frau schien ausschließlich auf ihn gerichtet zu sein, sodass er entweder als Eingeweihter an ihrer Selbstentblößung beteiligt – nur für ihn hatte sie diese Stelle aufgeknöpft – oder bloß ein Voyeur war, auf frischer Tat ertappt.

      Er wandte sich ab und sah einen Kellner ein Tablett mit Weingläsern herumreichen. Lysander nahm sich ein Glas – Riesling, eine Spur zu warm – und zog sich in eine Ecke zurück, um die Leute zu beobachten, die offenbar lieber miteinander plauderten, als Udo Hoffs Werke zu würdigen. Er fragte sich, wer von ihnen Hoff war. Die Künstler waren leicht zu erkennen – es gab einen mit rasiertem Schädel, einen ohne Krawatte, auch einen bärtigen Kerl im vollgeklecksten Malerkittel, der geradewegs aus seinem Atelier gekommen sein musste. Hanebüchen, sich so offensichtlich von den anderen abzuheben, dachte Lysander, einfach stillos. Von Miss Bull war allerdings weit und breit nichts zu sehen.

      Er stellte sein leeres Glas auf einem Tisch ab und setzte seinen Rundgang an den mobilen Raumteilern fort. Was er dort erblickte, ließ ihn jäh, beinah slapstickhaft innehalten. Er hatte eine Trennwand umrundet, die auf einer Seite mit kleinen gerahmten Zeichnungen von Krügen und Flaschen vollgehängt war, um zu erkunden, was sich auf der anderen Seite befand, und stand nun vor der Skizze – der Originalvorlage – eines Theaterplakats: Eine fast nackte Frau, die Hände schützend um ihre Brüste gewölbt, während eine Art Drachen, ein riesiger Schuppenaal, sein derbes Haupt erhob und sie bedrohte – er hatte nur ein einziges, orange glühendes Auge und streckte seine gespaltene Schlangenzunge in Richtung ihrer Lenden aus. Die Beschriftung lautete: Andromeda und Perseus, eine Oper in vier Akten von Gottlieb Toller. Also hatte Udo Hoff das anstößige Plakat entworfen, dessen Fetzen Lysander überall in der Stadt hatte hängen sehen … Damit war schon mal ein Rätsel gelöst. Und es handelte sich um Perseus, nicht um Persephone.

      Lysander trat zurück, um sich eine bessere Übersicht zu verschaffen. Das Bild war in der Tat eine unerhörte Provokation. Der schuppige lange Hals und Kopf des Ungeheuers mit dem einsamen eitrigen Auge. Selbst der argloseste Bourgeois musste den Symbolgehalt zwangsläufig erkennen. Und die junge Frau, diese Andromeda, schien –

      »Haben Sie die Oper gesehen?« Die Stimme sprach Englisch – mit Manchester-Akzent.

      Lysander drehte sich um. Vor ihm stand Dr. Bensimon in Abendgarderobe – Frack und weiße Fliege –, mit frisch gestutztem und getrimmtem Bart. Er gab ihm die Hand. Lysander war seltsam berührt, seinen Arzt hier zu sehen, außerhalb des üblichen Rahmens. Dann fiel ihm ein, dass auch Miss Bull seine Patientin war.

      Bensimon erging es offenbar nicht anders. »Hätte nie damit gerechnet, Sie hier anzutreffen, Mr Rief. Als ich Sie sah, traute ich meinen Augen nicht.«

      »Miss Bull hat mich eingeladen.«

      »Ach. Das erklärt natürlich alles.« Bensimon deutete auf das Plakat. »Die Oper wurde nur drei Mal in Wien aufgeführt – in einem Kabarett namens Hölle. Ja, wirklich. Kein anderes Theater wollte es wagen. Und dann wurde die Inszenierung von der Obrigkeit abgesetzt.«

      »Abgesetzt? Warum?«

      »Wegen grober Unschicklichkeit. Ich für mein Teil hätte sie allein wegen der Musik abgesetzt. Unerträglich kreischende Atonalität. Als spielte Richard Strauss verrückt.« Bensimon lächelte. »Altmodisch bin ich nur in einer Hinsicht – was die Musik angeht. Ich schätze schöne Melodien.«

      »Und was war daran so unschicklich?«

      »Miss Bull.«

      »Hat sie etwa mitgesungen?«

      »Nein, das nicht. Aber sie hat die Andromeda gegeben, wenn man so will. Ist Ihnen die Ähnlichkeit auf dem Plakat nicht aufgefallen? Sie kennen den Mythos: Andromeda ist am Meeresufer an einen Felsen gekettet, als Sühneopfer für das Seeungeheuer Ketos. Perseus kommt vorbei, tötet Ketos, befreit Andromeda, heiratet sie und so weiter und so fort. Tja, und die Sopranistin, die Andromeda spielen sollte – ihr Name tut nichts zur Sache –, hätte man leicht für einen Schwergewichtsboxer halten können. Darum verfiel Toller auf die Idee, für die Szene mit dem angreifenden Ungeheuer ein Andromeda-Double einzusetzen – СКАЧАТЬ