Eine große Zeit. William Boyd
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Название: Eine große Zeit

Автор: William Boyd

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9783311701705

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СКАЧАТЬ ich mich auf Anhieb zu ihr hingezogen fühlte, gegen jede Logik – jedenfalls gegen meine emotionale Logik, ich kenne doch meinen Hang zu diesen hoch aufgeschossenen Mädchen und Frauen mit langem Hals und dünnen Handgelenken – hoch aufgeschossenen Frauen wie Blanche. Woher stammen solche Vorlieben eigentlich, wie kommen sie zustande? Warum finden manche eher Gefallen an dunklen denn an blonden Haaren? Oder mögen runde Frauen lieber als schlanke? Wie muss ein Gesicht beschaffen sein – Augenbrauen im Verhältnis zur Nase, Stirnhöhe, mehr oder weniger volle Lippen, die veränderliche Geometrie eines Lächelns –, das insbesondere mich anspricht und keinen anderen? Hängt das mit irgendeiner atavistischen Vorstellung vom idealen Paarungspartner zusammen – »das ist sie, das ist die Richtige« –, verdrängt unsere urtümliche sexuelle Natur den rationalen zivilisierten Geist und führt uns dadurch in die Irre?

      Hettie Bull. Ich frage mich, ob das der Auslöser war, der Kontrast des biederen soliden Namens – Tochter von John Bull, Englands Symbolfigur – und der olivhäutigen, großäugigen, unheimlichen, psychisch labilen Erscheinung. Hat je ein Mensch einen unpassenderen Namen getragen? So viele Fragen. Doch muss ich hier Zeugnis ablegen über ihren schmalen, nackten Körper, der sich als derart wirksamer Katalysator erwiesen hat – so klein und geschmeidig, so begeisterungsfähig … vielleicht ist das der Schlüssel? Sie ist so dreist und unerschrocken. Wenn ein Mann sich begehrt weiß – so begehrt, dass man ihm eine ausgeklügelte Falle stellt, von solcher Hinterlist, dass er sich aus freien Stücken auszieht und nackt vor die Frau stellt, die ihm nachjagt … Eine spürbare sinnliche Präsenz, dazu offenkundiges Begehren und völlige Schamlosigkeit sowie eine ideale Gelegenheit. Es war einfach unwiderstehlich.

      Wurde ich von Hettie Bull geheilt? Kann ich jetzt nach London zurückfahren und Blanche endlich mit sexuellem Selbstvertrauen beglücken? Sie wird mich in ihr Bett locken, das weiß ich, sie hat es mir praktisch schon angekündigt. Warum fahre ich also nicht einfach nach Hause?

      Sei ehrlich. Hettie Bull hat dich irgendwie verhext. Du bist von ihr restlos bezaubert und willst sie wiedersehen, du musst sie wiedersehen, du kannst es kaum erwarten, sie wiederzusehen … Es gibt aber zwei Dinge, die an mir nagen: das Gefühl, dass meine Beziehung zu Hettie Bull mich in Schwierigkeiten bringen wird – egal, in welche Richtung sie sich entwickelt, und die Tatsache, dass mein Verrat an Blanche umso schwerer wiegt, je stärker ich mich auf Hettie einlasse.

      Als ich am späten Nachmittag heimkehrte – der kleine Zug hatte mich durch die allmählich heraufziehende Dämmerung nach Wien zurückgefahren –, ging ich gleich in mein Zimmer, schloss die Tür ab und zog mich komplett aus. Mein Körper war von rußigen Fingerabdrücken gezeichnet, zarten Blutergüssen gleich, die sich dicht an dicht drängten, Kohlenstaub, der ihr von den Fingerspitzen gerieselt war, als ihre Hände mich von oben bis unten erkundeten. Ich wusch sie mit einem feuchten Lappen ab und legte frische Kleidung an. Die Spuren ihrer Finger ließen sich leicht entfernen, doch während ich hier sitze und das alles aufschreibe, blitzen vor meinem inneren Auge verführerische Ansichten ihres Körpers auf, lebhafte Erinnerungen an die Zeit, die wir miteinander verbracht haben. Ihre Brüste, die mir vor der Nase pendelten, als sie nach ihrem Madeiraglas griff. Die Art und Weise, wie sie mich beobachtete, als ich mich wieder anzog, und sie nackt zwischen dem zerwühlten Bettzeug liegen blieb, den Kopf auf eine Hand gestützt. Und wie sie dann, als ich ging, aus dem Bett schlüpfte und den Nachttopf darunter hervorholte. Ich blieb auf der Schwelle stehen und sah ihr zu, während sie über dem Topf hockte, bis sie mich lachend aus dem Zimmer scheuchte. Ich glaube, ich stecke in Schwierigkeiten. Ich weiß, dass ich in Schwierigkeiten stecke. Aber was soll ich tun?

      18 Mentale Erregung

      Lysander erkannte nach und nach, dass Dr. Bensimons Fragen einem bestimmten Muster folgten, er ahnte, in welche Richtung er so behutsam geführt wurde.

      »Wie war Ihre Mutter angezogen, als Sie an jenem Tag nach Hause kamen?«

      »Sie trug ein Teekleid, eins ihrer liebsten – aus Satin, kupferfarben, mit viel Spitzen- und Schleifenverzierung am Kragen.«

      »Erinnern Sie sich an weitere Details?«

      »Ärmel und Saum waren mit Zobel verbrämt, das Oberteil war mit unzähligen Perlen besetzt.«

      Bensimon warf einen Blick auf seine Notizen.

      »Sie haben Buttertoast mit Erdbeerkonfitüre gegessen.«

      »Und Kümmelkuchen.«

      »Gab es noch andere Konfitüren oder pikante Brotaufstriche?«

      »Es gab Sardellenpaste – und Honig. Meine Mutter nimmt immer Honig zum Frühstück und zum Tee.«

      »Beschreiben Sie mir den Raum.«

      »Wir nennen ihn den Grünen Salon, er befindet sich im ersten Stock neben dem westlichen Treppenhaus. Die Wände sind leuchtend smaragdgrün lackiert. An einer Wand hängen etwa dreißig Miniaturen – Bilder vom Gutshaus und den Ländereien; ich glaube, eine von Lord Faulkners Tanten hat sie gemalt. Durchaus gekonnt, die Rahmen tragen allerdings erheblich zur Wirkung bei, wenn Sie verstehen, was ich meine. Der Raum ist klein, aber komfortabel – der Hauptsalon mit Blick auf den Südrasen ist sehr weitläufig –, er bietet ausreichend Platz für vierzig Personen.«

      »Sie sind also instinktiv in den grünen Salon gegangen?«

      »Den Tee haben wir immer dort eingenommen.«

      »Wie sieht der Boden aus?«

      »Ein klassischer Parkettboden mit einem sehr schönen Teppich – einem Shiraz.«

      Langsam, aber sicher brachten die Fragen immer mehr präzise Details ans Licht. Lysander erlebte, wie dieser Paralleltag, an dem nichts vorgefallen war, sich stufenweise konkretisierte, zur greifbaren Wirklichkeit wurde, die den ursprünglichen katastrophalen Tag mit seinem Rattenschwanz an diffusen Erinnerungen in den Schatten stellte. Der verhängnisvolle Nachmittag verblasste allmählich und verschwand hinter der wachsenden Sammlung von Fakten und Einzelheiten aus der neuen Parallelwelt. Im Lauf der Sitzungen stellte er fest, dass er diese neue Welt viel besser heraufbeschwören konnte als die alte; die fiktiven Erinnerungen nahmen, von seiner fonction fabulatrice angetrieben, Gestalt an, übertrumpften die quälenden Urbilder, ließen sie derart verschwimmen und undeutlich werden, dass er sich mit der Zeit fragte, ob sie nicht bloß vage Reminiszenzen an einen Albtraum waren.

      Bald positionierte er seine Mutter nach der Teestunde am Klavier – einem Stutzflügel – und brachte sie dazu, mit ihrem klangvollen Mezzosopran ein Schubertlied zu singen. Von der Musik angelockt, gesellte sich Lord Faulkner zu ihnen und rauchte eine Zigarre; vom Rauch musste Lysander niesen. Lord Faulkner bestellte eine frische Kanne Tee, und zwar Assam, seine Lieblingssorte. Die Tatsache, dass es sich dabei um das Ergebnis einer autosuggestiven Übung handelte, entwertete diese »Erinnerungen« nicht im Geringsten, wie Lysander erkannte. Durch einen reinen Willensakt, Ausdauer und Genauigkeit hatte er seine Parallelwelt so weit gedeihen lassen, dass sie sein Gedächtnis beherrschte, genau, wie Bensimon vorhergesagt hatte, und das häusliche Wohlbehagen an diesem neuen fiktiven Tag sämtliche Eindrücke verdrängte, die ihm solchen Kummer bereitet und unerträgliche Scham ausgelöst hatten.

      Als er seinen Panamahut vom Ständer nahm, trat Bensimons strenge, bebrillte Sprechstundenhilfe mit einem Umschlag vor ihn. Wahrscheinlich eine Quittung über die Zahlung vom vergangenen Monat, dachte er.

      »Herr Rief«, sagte sie, ohne ihm in die Augen zu sehen. »Das wurde für Sie hinterlegt.«

      Lysander nahm den Brief und las ihn auf dem Weg nach unten. Er war von Hettie.

      »Komm nächsten Mittwoch СКАЧАТЬ