Название: Honoré de Balzac – Gesammelte Werke
Автор: Honore de Balzac
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Gesammelte Werke bei Null Papier
isbn: 9783962815226
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»Er arbeitet an einer Dichtung«, rief der alte Professor.
»Sie glauben, er schreibt ein Gedicht, Monsieur? Das muß ja eine schöne Plackerei sein, was? Aber sehen Sie, ich glaub das nicht. Er sagt mir oft, er wolle durchaus vergetieren, ja, sagen wir einmal, ganz vegetatierisch wolle er leben. Ja, erst gestern, Monsieur Porriquet, besah er sich eine Tulpe, so beim Ankleiden, wissen Sie, und da sagte er: »So ist mein Leben. Ich vergetiere, guter Jonathas!« Nun wahrhaftig, es gibt andere, die behaupten, er sei ein Monomane. Das ist unweigerlich!«
»Das alles beweist mir«, versetzte der Professor mit schulmeisterlicher Würde, die dem alten Kammerdiener tiefen Respekt einflößte, »daß Ihr Herr sich mit einem großen Werk beschäftigt. Er ist in tiefe Meditationen versunken und will durch die Bedürfnisse des gemeinen Lebens nicht davon abgelenkt werden. Ein geistvoller Mensch vergißt in seiner Gedankenarbeit alles. Eines Tages verbrachte der berühmte Newton …«
»Ah! Newton, schön …«, sagte Jonathas; »den kenne ich nicht.«
»Newton, ein großer Mathematiker«, fuhr Porriquet fort, »blieb 24 Stunden unbeweglich sitzen, die Ellbogen auf einen Tisch gestützt; als er aus seinem Sinnen erwachte, glaubte er, es sei noch der vorige Abend, als hätte er geschlafen. Ich will den lieben Jungen sehen, ich kann ihm nützlich sein.«
»Halt!« rief Jonathas. »Und wenn Sie der König von Frankreich wären, der alte natürlich, würden Sie nur hineingelangen, wenn Sie die Türen sprengten und über mich hinwegschritten. Aber, Monsieur Porriquet, ich lauf hin und sag ihm, daß Sie da sind, und frage ihn etwa so: ›Soll man ihn heraufkommen lassen?‹ Dann kann er ja oder nein antworten. Niemals sage ich zu ihm: ›Wünschen Sie? Wollen Sie? Möchten Sie?‹ Solcherlei Worte sind aus unserem Gespräch gestrichen. Einmal ist mir solch eins entwischt, und da fragte er mich gleich in vollem Zorn: ›Willst du mich töten?‹
Jonathas ließ den alten Lehrer im Vestibül zurück und bedeutete ihm, sich nicht von der Stelle zu rühren; aber es dauerte nicht lange, bis er mit einem günstigen Bescheid zurückkam und den alten pensionierten Professor durch kostbar ausgestattete Gemächer führte, deren Türen samt und sonders offenstanden. Porriquet sah seinen Schüler schon von weitem an seinem Kamin sitzen. Raphael trug einen auffallend gemusterten Schlafrock, saß in einem bequemen Lehnstuhl und las die Zeitung. Die tiefe Schwermut, der er zum Opfer gefallen schien, drückte sich in der hinfälligen Haltung seines abgezehrten Körpers aus; sie stand auf seiner Stirn und auf seinem bleichen Antlitz, das einer verkümmerten Blüte glich. Seine Erscheinung verriet eine gewisse weibliche Anmut und die reichen Kranken eigenen bizarren Absonderlichkeiten. Seine Hände waren weiß, weich und zart wie die einer hübschen Frau. Seine blonden, bereits schütteren Haare lockten sich mit gesuchter Koketterie um seine Schläfen. Eine griechische Kappe aus Kaschmir wurde von einer für den leichten Stoff zu schweren Quaste heruntergezogen und saß schief auf seinem Kopf. Er hatte ein mit Gold ausgelegtes Malachitmesser, das er zum Aufschneiden eines Buches benutzt hatte, achtlos zu Boden fallen lassen. Auf seinen Knien lag das Bernsteinmundstück einer prachtvollen indischen Nargileh,4 deren glasierter Schlauch sich wie eine Schlange in seinem Zimmer ringelte, doch er vergaß, ihren frischen Duft einzuziehen. Die offenkundige Schwäche seines jungen Körpers wurde indessen von blauen Augen Lügen gestraft, in die sich das ganze Leben zurückgezogen zu haben schien: ein außerordentliches Gefühl strahlte aus ihnen, das sogleich ergriff. Dieser Blick tat weh, wenn man ihn sah. Der eine mochte Verzweiflung darin lesen; ein anderer einen inneren Kampf ahnen, der so schrecklich sein mußte wie Gewissenspein. Es war der tiefe Blick des Ohnmächtigen, der seine Wünsche auf den Grund seines Herzens zurückdrängt, oder der Blick des Geizigen, der in Gedanken mit all den Freuden spielt, die sein Geld ihm verschaffen könnte und auf die er verzichtet, um seinen Schatz nicht anzutasten; oder der Blick des gefesselten Prometheus, des gescheiterten Napoleon, der 1815 im Elysée vom strategischen Fehler5 seiner Feinde erfährt, für 24 Stunden das Kommando verlangt und es nicht erhält. Wahrhaft der Blick des Eroberers und Verdammten! Ja, mehr noch, der Blick, den Raphael einige Monate zuvor auf die Seine oder auf das letzte Goldstück geworfen hatte, das er im Spiel setzte. Er unterwarf seinen Willen, seinen Intellekt dem plumpen gesunden Menschenverstand eines alten Bauern, den 50 Jahre Dienststellung nur notdürftig zivilisiert hatten. Fast froh, eine Art Automat zu werden, entsagte er dem Leben, um zu leben, und versagte seiner Seele alle Poesie des Wünschens. Um der grausamen Macht, deren Herausforderung er angenommen hatte, besser entgegenzutreten, war er nach Art des Origenes6 keusch geworden, indem er seine Phantasie entmannte. An dem Tag, nachdem er, durch ein Testament schlagartig reich geworden, gesehen hatte, wie das Chagrinleder kleiner wurde, hatte er seinen Notar aufgesucht. Dort hatte СКАЧАТЬ