Название: Der Kurier des Zaren
Автор: Jules Verne
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Reclam Taschenbuch
isbn: 9783159608044
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Diesmal kamen ihm nicht die üblichen Vorrechte eines Zarenkuriers zustatten. Niemand durfte auch nur den leisesten Verdacht haben, dass er im Sonderauftrag des Monarchen reiste, und das vom Feind überfallene Land wimmelte sicher von Spionen. So hatte ihm General Kissoff zwar eine großzügig bemessene Geldsumme übergeben, die die Reise erleichtern sollte, dazu aber nur einen einfachen Pass ohne den Zusatz ›im Sonderauftrag des Zaren‹, der dem Kurier sonst alle Türen öffnete.
Der Pass war ausgestellt auf den Namen Nikolaus Korpanoff, Kaufmann aus Irkutsk. Das Papier berechtigte Korpanoff, sich nötigenfalls von ein oder zwei Personen begleiten zu lassen; ferner erlaubte es dem Inhaber, Russland zu verlassen, auch wenn die Regierung eine allgemeine Ausreisesperre verhängen sollte. Außerdem gestattete der Pass Michael Strogoff, Postpferde zu requirieren. Von dieser Erlaubnis durfte er aber nur Gebrauch machen, solange seine Person keinen Verdacht erregte, auf jeden Fall nur, solange er sich auf europäischem Boden befand. Danach musste er seinen eigenen Kräften und seiner Erfindungsgabe vertrauen. Für ihn gab es jetzt nur ein Ziel: sich einzuprägen, dass er der Kaufmann Nikolaus Korpanoff war, dass er keinerlei Sonderrechte in Anspruch nehmen durfte und Irkutsk unerkannt erreichen musste.
Noch vor dreißig Jahren bestand die Eskorte eines Sibirienreisenden von Stand aus nicht weniger als zweihundert berittenen Kosaken, zweihundert Mann Fußvolk, fünfundzwanzig Baschkiren zu Pferde, dreihundert Kamelen, vierhundert Pferden, fünfundzwanzig Wagen, zwei tragbaren Booten und zwei Kanonen. Nur so ausgerüstet wagte man die Reise durch Sibirien.
Michael Strogoff freilich durfte weder über Kanonen noch Reiter, noch Tragtiere verfügen. Er musste im Wagen, zu Pferd oder, wenn nötig, zu Fuß vorwärtskommen. Die ersten 1493 Kilometer zwischen Moskau und der russischen Grenze konnten kaum Schwierigkeiten bereiten. Eisenbahnen, Postkutschen, Dampfer, Pferde zum Wechseln waren allen Reisenden, folglich auch Michael Strogoff, zugänglich.
Schon früh am Morgen des 16. Juli begab er sich zum Bahnhof. Statt seiner Uniform trug er einen einfachen Überrock, der in der Taille eng gegürtet wurde, weite Beinkleider und eng anliegende Stiefel. Dazu hatte er einen Reisesack geschultert. Dem Anschein nach war der Reisende unbewaffnet; er trug aber einen Revolver und das Waidmesser der sibirischen Jäger wohlverborgen unter dem Gürtel.
Auf dem Bahnhof in Moskau herrschte großes Gedränge. Die russischen Bahnhöfe sind beliebte Treffpunkte, nicht nur für die Reisenden, sondern auch für bloße Zuschauer. Man benutzt sie fast als kleinen Umschlagplatz für Nachrichten.
Die Eisenbahn sollte Michael Strogoff zunächst nach Nischnij-Nowgorod bringen. Die Stadt war Endstation einer Linie, die von St. Petersburg über Moskau führte, und der Zug würde für die 426 Kilometer etwa zehn Stunden brauchen. In Nischnij-Nowgorod konnte er sich dann für die Weiterreise zu Land oder zu Wasser entscheiden; auf jeden Fall musste er die schnellste Reisemöglichkeit zum Ural nutzen.
Der Kurier machte es sich auf einem Eckplatz seines Abteils bequem. Er konnte ein braver Bürger sein, den seine Geschäfte nicht sonderlich beunruhigten und der sich die lange Reisezeit durch ein bisschen Schlaf verkürzen wollte. Da er nicht allein im Abteil war, schlief er sozusagen nur mit einem Auge, lauschte dafür aber umso aufmerksamer und mit beiden Ohren den Gesprächen der Mitreisenden. In der Tat war das Gerücht von der Erhebung der Kirgisen und dem Einfall der Tataren schon durchgesickert. Die vom Zufall hier zusammengewürfelten Reisenden sprachen davon jedoch noch mit einer gewissen Zurückhaltung.
Der ganze Zug war besetzt mit Kaufleuten, die zur großen Handelsmesse nach Nischnij-Nowgorod fuhren. Juden saßen neben Türken, Kosaken und Weißrussen neben Georgiern und Kalmücken; doch fast alle beherrschten die russische Sprache.
Man besprach das Für und Wider der Entwicklung, die sich jenseits des Ural anbahnte, und die Kaufleute schienen einschränkende Maßnahmen der Regierung für die Grenzgebiete und damit auch für ihren Handel zu befürchten.
Sie betrachteten den Krieg, also die Niederschlagung der Erhebung und den Kampf gegen das Invasionsheer, ausschließlich vom Gesichtswinkel ihrer gefährdeten Geschäfte. Die Anwesenheit eines einzigen einfachen Soldaten in Uniform hätte genügt, die Rede dieser Kaufleute zu zügeln, hatte man doch in Russland außerordentlichen Respekt vor der Uniform. Aber da Michael Strogoff sein Inkognito wahrte, glaubte man unter sich zu sein und schwatzte munter darauf los.
»Die Preise für Karawanentee sollen heraufgehen«, sagte ein Perser, dessen Nationalität man an der pelzbesetzten Mütze und dem Schnitt des ein wenig fadenscheinigen weitfaltigen Rockes erkannte.
»Der Teehandel hat wirklich nichts zu befürchten«, antwortete ein verdrießlich dreinschauender Jude. »Die Messeware jedenfalls kann mit hohen Absatzpreisen im Westen des Reiches rechnen. Mit den Teppichlieferungen aus Buchara steht es da weit schlechter.«
»Erwarten Sie denn eine Sendung?«, fragte der Perser.
»Nicht aus Buchara, aber aus Samarkand, was noch unsicherer ist. Verlassen Sie sich einmal auf Einfuhren aus einem Land, das bis hinunter zur chinesischen Grenze von den Khans aufgewiegelt ist!«
»Sie haben recht«, warf ein anderer Reisender ein. »Waren aus Asien wird es auf der Messe kaum geben, keine Teppiche aus Samarkand, keine Wollwaren, keine Seifen, keine Öle, keine Seidentücher.«
Ein russischer Reisender, der den Gesprächen mit spöttischer Miene zugehört hatte, unterbrach die Aufzählung.
»Na, Väterchen, nehmen Sie sich nur in Acht, dass Sie keine Fettflecke in die Seidentücher bekommen, wenn Sie sie mit den Seifen und Ölen zusammenpacken!«
»Das finden Sie wohl sehr komisch!«, erwiderte der Angeredete mit säuerlicher Miene.
»Und wenn Sie sich jetzt die Haare raufen und Asche aufs Haupt streuen, ändern Sie den Lauf der Dinge um keinen Deut.«
»Sie sind sicher kein Kaufmann!«
»Gott behüte! Nein! Ich verkaufe weder Hopfen noch Tee, auch nicht Pökelfleisch, Kaviar, Bänder, Leder oder sonst etwas.«
»Aber vielleicht kaufen Sie davon?«, warf der Perser ein.
»So wenig wie möglich, und nur für meinen Privatbedarf«, entgegnete der Russe augenzwinkernd.
»Das ist ein Spaßvogel«, meinte der Jude.
»Oder ein Spion«, erwiderte der Perser. »Wir wollen vorsichtig sein und nicht mehr als nötig reden. In solchen Zeiten ist die Polizei nicht gerade feinfühlig, und man weiß nicht, mit wem man zusammensitzt.«
In einer anderen Ecke des Abteils sprach man weniger von Handelsgeschäften, umso mehr aber vom Tatareneinbruch und seinen möglichen Folgen.
Ein Reisender meinte: »Man wird in Sibirien alle Pferde requirieren. Es wird kaum noch Verbindungswege zwischen den Provinzen von Zentralasien geben.«
Und sein Nachbar fragte: »Stimmt es denn, dass die Kirgisen der Mittleren Horde mit den Tataren gemeinsame Sache machen?«
»Das sagt man jedenfalls«, antwortete der Angesprochene halblaut. »Aber wer kann in diesem Land schon behaupten, etwas mit Sicherheit zu wissen!«
»Ich hörte von Truppenzusammenziehungen an der Grenze. Die Don-Kosaken sollen bereits an der Wolga stehen. Man will sie den Kirgisen СКАЧАТЬ