Название: Schauer der Vorwelt
Автор: Tobias Bachmann
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783969447406
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»Sehen Sie her!«, brüllte er mich an. »Selbst ich trage Handschuhe zu meiner eigenen Sicherheit. Aber nicht einmal mit diesen Dingern sollten Sie es wagen, den Stein zu berühren.«
Er streifte sich die weißen Handschuhe ab und warf sie mir in den Schoß.
»Weshalb?«, wollte ich wissen.
»Ich war bereits dort. Sie nicht. Deshalb; und Ende der Diskussion.«
Nickend gab ich zu verstehen, dass ich seine unmissverständliche Ansage akzeptieren würde. Dennoch fragte ich: »Was denken Sie denn, was passieren könnte?«
Carter zuckte mit den Schultern.
»Ich bin davon überzeugt, dass es etwas mit Ihren Träumen machen würde. Ich rate Ihnen daher davon ab, den Stein zu berühren. Wenn Sie sich meiner Anweisung wiedersetzen wollen, bitte.« Er deutete mit geöffneten Handflächen auf das schwarze Objekt. »Tun Sie sich keinen Zwang an, aber ich will verdammt sein, wenn ich Sie nicht gewarnt hätte. Also hüten Sie Ihre Finger!«
»Verstanden«, sagte ich, um seinen Wutausbruch ein wenig abzumildern, und Carter grunzte zufrieden.
Schweigend betrachteten wir den finsteren Brocken vor uns.
Vergeblich versuchte ich, etwas in seiner unförmigen Struktur auszumachen. Gleichzeitig zog mich das Gebilde unweigerlich in seinen Bann. Da war etwas, das ich nicht beschreiben konnte. Etwas, das ich nicht verstand. Etwas Lebendiges?
Mochte es sein, dass der Stein lebte?
Beherbergte er gar ein lebendiges Ding in seinem Inneren?
Da!
Hatte er nicht soeben leicht pulsiert?
Diese wie mit Pulver beschichtete Erhebung an der rechten Seite. Sie schien mir fast organisch zu sein.
»Der Stein ist massiv«, sagte Carter plötzlich, als ob er meine Gedanken hätte lesen können. »Massiv und gefährlich.«
»Und Sie haben ihn einfach so mitgenommen?«, fragte ich leicht fassungslos.
»Ich habe ihn eingepackt, nachdem ich über ihn gestolpert bin«, sagte Carter. »Beinahe wäre er mir weggerollt. Ich befand mich auf einer steilen Erhebung. Mit beiden Händen umklammerte ich das Ding und … erwachte.«
»Sie wollen mir sagen, Sie haben das Ding im Traum eingesteckt und sind hier in Ihrem Bett aufgewacht und es war bei Ihnen?«
»Das klingt unvorstellbar, ich weiß«, sagte Carter. »Aber ich schwöre, dass dem so gewesen ist. Ein Freund von mir hat Ähnliches durchlebt. Warten Sie. Ich suche seinen letzten Brief heraus. Er hat das Geschehnis darin sehr eindringlich beschrieben.«
Wieder erhob sich Randolph Carter und steuerte ein mir unbekanntes Ziel in seiner Wohnung an. Während Carter irgendwo im Hintergrund nach etwas kramte, tat ich es: Ich berührte den Stein.
Einfach so. Nur ganz kurz.
Mit der Fingerspitze meines rechten Zeigefingers. Er fühlte sich völlig normal an. So, wie sich ein Stein eben anfühlt. Und es geschah … Nichts. Rein gar nichts. Carter kam zurück, und hielt einen handgeschriebenen Brief in Händen, aus dem er mir die nächste Viertelstunde vorlas. Und auch während dessen geschah nichts. Ich war mir mit einem Mal sicher, einem Betrüger auf den Leim gegangen zu sein. Ein offenkundig verrückter Kerl, der die Fähigkeit besaß, einen naiven Idioten wie mich aufs authentischste mit seinen Geschichten zu überzeugen. Auch wenn ich keinen Sinn darin entdecken konnte, so führte ich mir vor Augen, dass jeglicher Wahnsinn keines Motives bedarf. So gab ich mich Carters Erzählungen hin und genoss den Martini, der trocken meinen Gaumen umschmeichelte.
Als ich Carters schwarzgetünchte Wohnung zu mitternächtlicher Stunde verließ, war es außen mindestens ebenso dunkel. Die Straßenlaternen waren nicht heller als die einsame Kerze, die auf Carters Schreibtisch geflackert hatte.
Ich lief durch die Straßen Kingsports und dachte über die Begegnung nach. Carter schien mir ein verstörter Mann zu sein. Ein harmloser Soziopath, der sich selbst in eine traumgleiche Parallelwelt hineinträumte. Kadath.
So ein Schwachsinn!
Ich umrundete die altgotische Kirche, die sich schwarz vom Mondlicht abhob, als ich der Schatten gewahr wurde.
Schwarze Schatten in einer ebenso schwarzen Welt.
Zunächst hielt ich es nur für farblose Fantasiegespinste, die vermutlich durch Carters Fabulierkunst gepaart mit dem Genuss des Alkohols in mir aufstiegen. Und ebenso wie die Fantasie mir mit den sich bewegenden Schatten Streiche spielte, hatte ich mich mit dem Mann, der sich Randolph Carter nannte, in etwas verrannt. Andererseits passten die Rahmenbedingungen nahezu perfekt. Sein Name, seine Erzählungen, Kadath … all die wundersamen Parallelen zu Lovecrafts Schriften, deren Entschlüsselung ich mir zur Aufgabe gemacht hatte.
Dabei war es ohnehin ein Wunder, dass ich Kingsport gefunden hatte. Nahm man doch gemeinhin an, es handele sich um eine Erfindung des schreibenden Einsiedlers aus Providence. War es Einbildung oder krochen die Schatten näher? Ich lief ein wenig schneller und stellte unter einer verbogen wirkenden Straßenlaterne fest, dass sie ihr milchig trübes Licht über schwarze Pflastersteine ergoss. Ich meinte, dasselbe Schwarz zu erkennen, wie jener geheimnisvolle Stein, von dem Carter behauptete, ihn aus Kadath mitgebracht zu haben.
Rasch eilte ich weiter.
Bei Tag wirkte Kingsport nicht anders als andere Küstenstädte. Es gab nichts Außergewöhnliches an diesem Ort. Nichts, was einen Reisenden hierher lotsen würde.
Und dennoch hatte es mich ausgerechnet nach Kingsport verschlagen. In dieser vorsintflutlich wirkenden Abgeschiedenheit, in der sich nur Fischer, Seeleute und ebenso faules Künstlerpack wohlfühlen können.
Kingsport war nicht so wie Arkham, dass mit seinen moosgrünen Walmdächern regelrecht modern auf mich wirkte. Kingsport war die altersgraue Niedertracht eines verödeten Ortes. Der stinkende Ozean klatschte hier schäumend gegen die Klippen. Dunstig stieg das salzige Wasser in dichten, dampfenden Wogen auf, zog sich die Kais entlang, waberte in das Gewirr aus eng verwinkelten Gassen hinein, bis der Nebel hinauf zu den Schornsteinen stieg, die sich über grotesk verlängerte Dachgiebel beugten.
Und obwohl wir in modernen Zeiten lebten, hatte man bei Nacht das Gefühl, einen Zeitsprung in die Vergangenheit verpasst zu haben. Denn plötzlich bemerkte ich vor mir die Heimeligkeit einer rußenden Ölfunzel, die ein altes Mütterchen wankend über die Straße trug. Ich blieb stehen und beobachtete die Frau, wie sie hustend in einem Hauseingang verschwand. Kurz darauf wurden hinter den Fenstern Kerzen entzündet. Gerne wäre ich eingetreten, in die wohlige Wärme ihrer karg eingerichteten Wohnung. Doch Derartiges gehörte sich nicht.
Also schleppte ich mich weiter, die Dunkelheit im Nacken und mich ächzend windend, da die Beine mich kaum noch tragen wollten. Der Abend war lang gewesen und ich entsprechend müde. Irgendwo musste mein Hotel sein, hoffte ich. Und dann waren da die finsteren Schatten, die sich an meine Fersen geheftet hatten. Schatten, die schmatzende Geräusche von sich gaben.
Ängstlich СКАЧАТЬ