Название: Schauer der Vorwelt
Автор: Tobias Bachmann
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783969447406
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»Ihr?«, fragte der Typ mit dem Messer in der Hand. Er hatte seine Waffe mittlerweile sinken lassen. Mit einer derart psychischen Gegenwehr hatte keiner der drei Kids gerechnet.
»Ihr!«, sprach er der Mann mit funkelnden Augen weiter, »Der Stadt meiner Träume, mit den goldenen Dächern im Schein des Sonnenuntergangs, die ich so lange gesucht und nun endlich gefunden hatte.«
Die Jugendlichen sagten nichts, doch das schien den Mann nicht zu stören. Stattdessen richtete er das erste Mal seinen Blick auf die Drei und es schien, als nehme er sie nun überhaupt erst bewusst war. »Und Ihr glaubt ernsthaft, dass ihr mich mit eurem Messerchen beeindrucken könntet?«, flüsterte er.
Doch sein Flüstern war eindringlicher, als hätte er lauthals nach der Polizei gerufen. Unverzüglich nahmen die Jugendlichen Reißaus. Zufrieden blickte er ihnen hinterher. Ebenso bei mir hinterließ sein Gerede einiges an Irritation. In den hintersten Windungen meines Hirns regte sich etwas. Doch war es nicht greifbar. Dafür verbreitete sich die Neugier. Neugierde und Faszination waren seit jeher meine liebsten Motive, wenn es darum ging, mich für einen Menschen oder eine Sache zu interessieren. Ich begab mich zum Einkaufswagen und griff mit einer Hand an das Gitter des Korbes und mit der anderen an den Schiebgriff. Der Mann gesellte sich zu mir.
»Sie brauchen mir nicht helfen«, sagte der schmuddelig wirkende Mann.
»Keine Ursache«, entgegnete ich.
Gemeinsam wuchteten wir den Einkaufswagen zurück auf seine Räder. Die herumliegenden Dinge waren das übliche Inventar solcher Einkaufswagen, die von Obdachlosen durch die Stadt geschoben wurden: Pfandflaschen, Essensreste, Kleidungsfetzen und dergleichen. Doch da waren noch andere Dinge, die der Mann mich nicht aufheben ließ. Es fiel auf, dass er sich auf manches der Sachen stürzte, bevor ich überhaupt in deren Nähe kam. Geschickt versperrte er mir die Sicht auf das, was ihm so wichtig war. Als wir fertig waren, reichte er mir die Hand.
»Danke«, sagte er.
»Darf ich Sie noch auf etwas einladen?«, fragte ich und meinte es aufrichtig. »Auf etwas zu Essen oder auf einen Drink?«
»Ich brauche keine Almosen«, zischte es aus seinem Bart und schob den Einkaufswagen in Richtung Stadtzentrum.
»Warten Sie doch, Herr … Herr … Wie heißen Sie eigentlich?«
Sein Name war Randolph Carter, und er war wahnsinnig. Er war von seinem Gesundheitszustand so überzeugt, wie es gesunde Menschen von dem ihrem waren. Weiterhin schlug Carter aus, mit mir ein Straßencafé aufzusuchen. Er wolle seinen Wagen nicht aus den Augen lassen und müsse nach Hause. Des Weiteren habe er wahrhaftig kein Interesse daran, von mir eingeladen zu werden. Als ich ihm daraufhin fragte, ob ich ihn begleiten dürfe, willigte er ein.
Es war eine lange Wegstrecke, die wir gemeinsam zurücklegten, ohne dass ich wusste oder überhaupt erahnte, was oder wo Carters Ziel sein würde. Als ich ihn danach fragte, kam unser Gespräch in Gang. Er behauptete, sein gesamtes Leben lang auf der Suche nach einer Stadt gewesen zu sein.
Eigenen Aussagen zufolge führte ihn diese vermeintliche Suche in eine Art Unterwelt, die mich, seinen Beschreibungen nach, an das altgriechische Totenreich Hades erinnerte. Als ich Carter darauf ansprach, offenbarte dieser mir seine arkadische Vision der Hölle, während wir bei strahlendem Sonnenschein den Stadtpark von Kingsport durchquerten.
Als nüchterner Zuhörer entging mir nicht, dass es sich um nichts weiter als eine Traumwelt handelte. In diesem Wahn flüchtete sich der hoffnungslose Carter vermutlich seit etlichen Zeiten. Gerne würde er dorthin zurückkehren, sagte er, doch habe er seinen Silberschlüssel verloren.
Dabei waren die Traumlande, die er als sein imaginäres Reiseziel bezeichnete, nichts weiter als eine Fantasiewelt. Seiner Meinung nach erreicht man sie nur, wenn man schläft oder träumt. Vorausgesetzt man träume richtig, wusste er. Nicht jeder Träumer sei dazu in der Lage, dorthin zu gelangen.
Immer wieder erwähnte Carter das Tor des Schlummers. Es war nur über einen Abstieg von siebenhundert Stufen zu erreichen.
»Es gibt auch physische Wege, die Traumlande zu besuchen«, sagte Carter. »Man muss sich nicht in die Arme des Schlafes begeben. Allerdings ...« Er hielt inne und sein Blick glitt in unbestimmte Ferne, bevor er fortfuhr: »Hierfür benötigt man besagten Silberschlüssel. Da mir dieser fehlt ist eine Rückkehr ins Reich der Träume für mich unmöglich.«
»Wieso suchen Sie nicht einfach den Schlaf des Gerechten?«, fragte ich ihn.
»Weil ich dann meinen Körper nicht mitnehmen kann«, lautete die lakonische Antwort.
Keine Frage, Carter war von seinem eigenen, trunkenen Geschwafel so überzeugt, wie ein gottesfürchtiger Fanatiker von seiner Religion.
Die Traumlande an sich sei eine Dimension, die der Erde gar nicht so unähnlich sei, wusste Carter zu berichten. Es gäbe Städte, Meere, Gebirge, Dörfer und verschiedenste Menschenvölker. Zudem lebten dort viele Katzen, deren Sprache man lernen könne, was für jeden nur von Vorteil sei. Seltsame Bestien bevölkerten indes den Mond. Zu diesem könne man mit einem Schiff segeln, wusste Carter, lenkte aber ein, dass dem nur möglich sei, würde man den Weg kennen. Es gab leichenfressende Ghoule, die unter der Erde lebten, sowie in einer kalten Einöde, die zum unbekannten Kadath führt: Ein Berg, auf dem die Erdengötter lebten.
Bei derart absurden Beschreibungen schüttelten die Leute nur die Köpfe. Die Überzeugung, Carter würde spinnen, war omnipräsent, sobald man mit ihm ins Gespräch kam. Vermutlich hatten die Leute mit ihren Vorurteilen sogar recht.
Bei mir hingegen war es anders; die Faszination seiner Erzählungen und Reisebeschreibungen, die er mir während unseres mehrstündigen Gewaltmarsches durch die Stadt anvertraute, nahm von meiner gesamten Existenz besitz. Bald schon war ich davon überzeugt, dass - wie so oft, bei derartigen Spinnereien - mehr dahintersteckte, als man gemeinhin glauben mochte. Zumal ich mich auf die Erforschung der phantastischen Literatur eines Autors spezialisiert hatte, dessen Stoff Carters Erzählungen ungemein ähnelten.
Dabei wirkte Carter nicht sonderlich belesen. Vielmehr gab er das Erscheinungsbild eines Obdachlosen. Er wirkte heruntergekommen und der Einkaufswagen, den er vor sich herschob und in dem er sein gesamtes Hab und Gut transportierte, trug nicht gerade zur Verbesserung dieses Eindrucks bei.
Doch Randolph Carter lebte in einer Wohnung. Er verfügte über ein festes Einkommen und war auch ansonsten an und für sich ein feiner Geselle. Ein alter Kauz war er, der gerne mal etwas trank und ab dem dritten Glas zu nuscheln anfing.
Irgendwann setzte die Dämmerung ein und Carter hatte seinen Spaziergang vor einem Plattenbaukomplex in den Randbezirken von Kingsport beendet. Ich fragte ihn, weshalb er seine so geliebten Traumlande überhaupt je verlassen habe.
»Ich kann es Ihnen erzählen«, sagte er. »Aber dazu müssen Sie noch mehr Zeit mitbringen, als Sie mir bereits jetzt geopfert haben.«
»Ich habe Zeit«, sagte ich.
»Dann kommen Sie und packen Sie schon mal mit an.«
Wir nahmen den Einkaufswagen und trugen ihn die Treppen hinauf, so wie Eltern es mit ihren Kinderwagen taten.
»Wohnen Sie hier?«, СКАЧАТЬ