Название: Schauer der Vorwelt
Автор: Tobias Bachmann
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783969447406
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Carter kramte in seiner Jackentasche nach dem Türschlüssel. Ich beobachtete ihn dabei, um mich davon zu überzeugen, ob es sich bei dem Schlüssel nicht um ein silbernes Exemplar handelte.
Es war kein Silberschlüssel und wir gingen auch nicht durch die Tore des Silberschlüssels. Stattdessen betraten wir ein heruntergekommenes Treppenhaus, in dem sich auch ein Aufzug befand. Carter schob seinen Wagen hinein und wir beide quetschten uns in den nunmehr vollen Fahrstuhl.
»Es ist nicht groß und ohnehin nicht das, was Sie erwarten«, sagte er.
Ich entgegnete nichts, betrachtete mir nur die seltsame Gestalt, die ich den halben Tag quer durch Kingsport begleitet hatte, um ihr Geheimnis zu ergründen.
Doch war es das wirklich gewesen? Was war es, dass mich an Carters Erscheinung so gefangen nahm? War es der Wahnsinn in seinen Augen? Die Unlogik der Dinge, von denen er mit Überzeugung berichtete? Die scheinbare Singularität zu Lovecrafts Schriften? Oder war es mein eigener Irrsinn, dem ich schon lange erlegen war, ohne es bemerkt zu haben?
Wer war ich schon?
»Wer sind Sie eigentlich?«, fragte Carter, als der Aufzug uns in ein verdrecktes, stinkiges Stockwerk entließ. Vom Treppenhaus aus gelangte man auf einen Gang, über den man insgesamt vier Wohnungen erreichen konnte.
Der Traumsucher schob seinen Einkaufswagen zur hintersten der vier Wohnungstüren, sperrte auf und verschwand im Inneren seiner Behausung.
Ich folgte ihm und ließ alle Hoffnungen fahren, als die Tür sich mit einem leichten Seufzen hinter mir schloss. Das Zentrum seines schwarz gestrichenen Appartements bildete ein götzengleicher Schreibtisch. Auf diesem befand sich neben einer alten Schreibmaschine ein Blätterbaum aus verschiedensten Manuskripten. Oder war es ein einziges Manuskript?
»Sie schreiben?«, fragte ich.
»Ja, doch finde ich die richtigen Worte nicht«, sagte er. Carter beschäftigte sich irgendwo hinter meinem Rücken in einem Nebenraum mit dem Inhalt seines Einkaufswagens.
Mein Blick schweifte weiter durch den Raum, der außer dem Schreibtisch und seinem Stuhl kein Möbelstück beherbergen wollte. Bücher stapelten sich in unterschiedlicher Höhe zu Türmen, die mit ihrem Einsturz drohten. Sicherlich waren sie nach einem bestimmten System geordnet, doch war es mir nicht möglich, dieses zu bestimmen, genauso wie ich kaum die Titel in Augenschein nehmen konnte, da es schlichtweg zu dunkel dafür war.
Selbst wenn draußen noch die Sonne geschienen hätte, so wäre sie nur schwerlich durch die schwarzen Vorhänge durchgedrungen. Und hätte ich dann noch den Mut gehabt, diese aufzuziehen, so würde die schwarze Wandfarbe das eintretende Licht schlicht und ergreifend verschlucken.
Eine einsame Kerze erhellte das Chaos auf dem Schreibtisch und sorgte dafür, dass mir das restliche Inventar des Zimmers nicht verborgen blieb.
»Haben Sie etwas gegen Licht?«
»Im Gegenteil«, drang Carters Stimme aus dem Hintergrund zu mir. »Licht ist wichtig und schön. Nur versuche ich, den Fokus auf eine Sache zu lenken. Ich möchte Ablenkung vermeiden. Daher die einsame Kerze.«
»Wo sind sie?« Ich drehte mich im Kreis und suchte meinen Gastgeber, konnte ihn aber nirgendwo im Dunkeln des Zimmers ausmachen.
»Hier«, sagte er.
»Wo?«
»Wollen Sie etwas trinken?«
»Gerne«, antwortete ich in die Schwärze hinein.
»Was halten Sie von Martini?«, schoss Carters Stimme von hinten an mich heran. »Während ich die Gläser fülle, können Sie ja mal zur Abwechslung etwas von sich erzählen.«
»Na schön«, sagte ich und fügte mich endgültig meinem Schicksal. »Ich möchte mich Ihnen kurz vorstellen, wobei mein Name nichts zur Sache trägt. Gerne würde ich anonym bleiben.«
»Anonym? Weshalb?«
»Das tut nichts zur Sache. Nennen Sie mich einfach K.«
»Kaa?«
»Wie der Konsonant«, bestätigte ich. »Ich bin das, was man einen Literaturkritiker nennen könnte. Jedoch trifft es das nicht im geringsten. Ich selbst halte mich für einen Forscher. Mit Literaturkritik fing es lediglich an. Meine Forschungen haben ein zentrales Thema, wovon ein wichtiger Bestandteil die Entschlüsselung des lovecraftschen Codes ist. Ich bin überzeugt davon, dass seine Schriften eine geheime Botschaft vermitteln, und dies bringt mich unter anderem zu der Überzeugung von der Existenz gewisser Wesen oder parallelen Universen. Aus diesem Grund binich mir sicher, dass es sich bei Ihren Erzählungen über die Traumlande entweder um eine Lüge handeln muss, oder aber um die Bestätigung, dass Lovecrafts Fantastereien keine waren, sondern authentische Berichte einer sensiblen Seele. Ist Ihnen Lovecraft bekannt, Carter?«
»Ich kenne keinen Loveshaft oder wie Ihr Freund heißt«, schallte seine Stimme durch das Dunkel.
»Wissen Sie«, fuhr ich fort, »in einigen seiner Geschichten gibt es einen Protagonisten, der denselben Namen trägt, wie Sie. Glauben Sie an Zufälle?«
»Ich glaube an Traumbilder und deren Verkörperung in unserem Selbst. Die Niedertracht der Seele, wenn Sie so wollen. Ich glaube daran, dass die Welt vor die Hunde geht, weil wir es verlernt haben, zu träumen.«
»Ist es das, was Sie erforschen, Carter?«
Mein Gastgeber erschien unversehens neben mir und reichte mir ein vorbildlich gemixtes Glas Martini. Nachdem er sich mit seinem Glas und der Flasche mir gegenübergesetzt hatte, sagte er: »Ich erforsche das Konzept von Wissen und Macht, den magischen Strom, der - überwacht vom menschlichen Geist - jeden ihn umgebenden Partikel kontrolliert. Wie bei einem alchemistischen Labor, in dem die Substanzen fließen, sich trennen und in zehn Inkarnationen wiederkehren. Was auch immer geschieht, K., am Ende steht immer das Gold.«
»Sind Sie Alchemist?«
»Ich bin Träumer und Realist zugleich«, sagte er.
»Demnach ein Fantast?«
»Das könnte man meinen, ja. Meine Träume sind relativ zu sehen«, antwortete Carter.
»Was soll das heißen?«, fragte ich.
»Relativ eben, wie Einsteins Theorie.«
»Was bitteschön mag die Relativitätstheorie mit Ihren Träumen zu tun haben?« Die Frage war ernst gemeint. Carter seufzte.
»Was heißt denn relativ?«, begann er. »Relativ gesehen zu Ihren Träumen mögen die meinigen regelrecht kosmisch anmuten. Meine Träume sind tiefer, als das dämmernde Etwas, das man Schlaf getauft hat. Ist das ein Vergleich, der Ihnen gelegen kommt, K.?«
Ich war mir nicht sicher, weswegen ich es vorzog, nichts zu sagen.
»Die Relativität ist ein Problem. Letztlich bezieht sich die Relativität immer auf irgendetwas - nur in unserem Fall ist der Traum relativ zum Erlebtem. Das macht die Sache kompliziert und führt letztlich zu der Erkenntnis, dass Einstein wohl oder übel doch nicht recht gehabt hat.«
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