Название: Dezemberkids
Автор: Kaouther Adimi
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Lenos Babel
isbn: 9783857879869
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Und General Athman hat früher mal in England Jura studiert, finanziert von der algerischen Armee. Er ist eine stattliche Erscheinung, jemand, der seinen Charme mit Erfolg einzusetzen weiss, das genaue Gegenteil von seinem Freund, General Saïd.
Was keinem klar ist: Athman hat nie ein Diplom gemacht. Er hat seine Universitätsjahre in den Londoner Pubs verbracht und damit, Mary, einer jungen Engländerin, nachzustellen, die ihn von heute auf morgen sitzenliess. Mitte der siebziger Jahre kam er nach Algerien zurück, und die Armee nahm ihn mit offenen Armen auf. Er zeigte ein gefälschtes Diplom vor und bekam einen Posten im juristischen Dienst. Er heiratete ein Mädchen aus seinem Dorf und hatte Mary und London im Nu vergessen. Seinem Bruder gab er den Rat, ein Tiefbauunternehmen zu gründen, und schanzte ihm dank seiner Kontakte die grössten Baustellen des Landes zu.
Heute nennt er eine Wohnung in Genf sein Eigen und ein Hotel in Spanien, das auf den Namen seiner Frau eingetragen ist, dazu Gemälde grosser Meister, die er in seiner Pariser Wohnung versteckt, die auf den Namen eines seiner Kinder eingetragen ist, und zwei gepanzerte Limousinen. Dank seinem Schwager, dem Zolldirektor, kann er problemlos alles, was er will, über die Grenzen bringen und kassiert regelmässig die beschlagnahmte Ware ein.
Seine fünf Kinder wohnen bei ihm, selbst wenn die Ältesten, seine drei Söhne, schon verheiratet sind und jeder ein eigenes Kind hat. Athman legt Wert darauf, dass die ganze Sippe zusammenbleibt. Und niemand beklagt sich darüber.
Einmal im Monat erhält der General Besuch von einer Seherin, die den Faden der Zeit vor ihm entrollt. Sie nennt ihm die Daten, an denen er aufpassen muss, die Tage, an denen er sorglos aus dem Haus gehen kann. Auch kontrolliert sie, ob sein Haus nicht etwa verhext worden ist, ob auch niemand hinter einem Möbelstück eine Kleinigkeit, wie ein Amulett oder einen Fetzen Papier mit einer magischen Formel, hat fallen lassen, die Unglück über den General und seine Familie bringen könnte.
Bei ihrem letzten Besuch hatte sie ihn gewarnt: »Ich sehe Schatten, eine wachsende Menschenmenge, eine Bedrohung, die zwar klein ist, aber sich ausweitet … Ich sehe Feinde, viele Feinde, deren Existenz Sie noch nicht einmal ahnen. Ich sehe auch etwas Rotes, ein sehr intensives Rot, das ich nicht identifizieren kann, aber es ist kein schönes Rot, also nehmen Sie sich in Acht, Herr General!« Er hat ihr gedankt, sie zur Tür begleitet und ihr einen fetten Schein in die Hand gedrückt. In jener Nacht hat er sehr schlecht geschlafen, aber am Morgen befand er, er sei ja bestens geschützt und müsse jetzt nicht in Panik verfallen.
Saïd und Athman lernten sich in den achtziger Jahren kennen, und es bahnte sich eine unglaublich enge Freundschaft an, gründend auf dem an Verfolgungswahn grenzenden Argwohn gegenüber ausnahmslos jedem, einschliesslich der eigenen Ehefrauen und Kinder, und dem von beiden geteilten Gefühl, dass ihre Mission, nämlich Algerien gegen innere und äussere Angriffe zu schützen, ihr Lebenssinn sei. Sie waren einander näher als ihren leiblichen Brüdern.
Und so kam es, dass General Saïd, als er von der Existenz dieses anderthalb Hektar grossen Brachlands erfuhr, das keinem wirklich gehörte, oder genau genommen dem Verteidigungsministerium, seinem Freund davon erzählte und sie gemeinsam beschlossen, es in Besitz zu nehmen, um dort Seite an Seite ihre Villen zu erbauen. Dort würden sie sich geborgen fühlen. Einer würde über den anderen wachen und über dessen Familie.
Es war einfach perfekt.
6
Am Mittwoch, dem 3. Februar, kurz nach 11 Uhr, läuten die Glocken der Grundschulen von Dely Brahim, und Hunderte von Kindern stürmen ins Freie, ergiessen sich auf die Strasse in einem einzigen Rutsch. Eine Masse hellblauer, rosa, weisser, gelber, langer, kurzer, karierter, gestreifter oder dezent gemusterter Schulkittel. Die Schüler rennen nach Hause, springen mit beiden Füssen in Pfützen, lachen und spielen Fangen. Sie tun dasselbe wie alle Kinder dieser Welt: sich über die Mittagspause freuen, die sie von der Schule befreit, hinter streunenden Hunden herlaufen, Fangen spielen, alles mit dem Ranzen auf dem Rücken. Manche trotten solo nach Hause, andere sind grüppchenweise unterwegs, wieder andere zu zweit, wie kleine Paare. Mitunter rempeln sie auch Erwachsene an, die dann mächtig über diese ungezogenen Kinder schimpfen.
Ines, Dschamil und Mahdi laufen gemeinsam heim, munter schwatzend, dabei immer wieder Bäumen und Strommasten ausweichend. Sie stoppen kurz bei einem Tabakkiosk, um Kaugummis zu kaufen. Der Verkäufer schenkt ihnen noch ein paar Bonbons. Er mag die drei Kids, die oft bei ihm reinschauen, um ihre paar Dinar bei ihm zu lassen.
Als sie die Zufahrt zur Cité du 11-Décembre erreichen, sausen sie den Hang zu den Häusern hinunter, geben dabei aber auf entgegenkommende Autos acht. Als sie auf der Höhe des Bolzplatzes sind, sehen sie dort Erwachsene, die laut herumschreien und mit den Armen fuchteln: Jussef, der brüllt, während Gendarmen ihn zu beschwichtigen versuchen; Adila, Ines’ Grossmutter, die versucht, mit ihrem Gehstock auf zwei Männer einzuschlagen, während Mohamed und Scherif, die sich zwischen sie und die Generäle gestellt haben, sie zu bremsen versuchen.
Die Kinder kommen näher, doch ganz trauen sie sich nicht heran. Da taucht die rothaarige Verrückte neben ihnen auf und kichert mit ihrem zahnlosen Mund: »Hey, Kinder, kennt ihr die Geschichte von El Hakim und seinem Esel?«
Ines, Dschamil und Mahdi schütteln den Kopf.
Die Verrückte fährt fort: »Nein? Na, dann hört mal zu: Das ist die Geschichte von einem Esel, der seinen Acker verlässt, um in die Hauptstadt zu gehen. Er ist schon im Stadtzentrum, da stoppt ihn ein Gendarm und fragt ihn, was er hier will. Der Esel antwortet: ›Ich will ins Radio, deshalb hab ich den ganzen weiten Weg gemacht.‹
Der Gendarm: ›Wie das? Du willst ins Radio? Aber da ist kein Platz für dich!‹
Der Esel, tief beleidigt: ›Wieso sollte ich nicht da willkommen sein, wo den ganzen Tag nur Esel zu Wort kommen?‹«
Die Kinder müssen lachen. Zufrieden wirft die rothaarige Verrückte ihnen einen Handkuss zu und hüpft unter seltsamen Verrenkungen in ihrem gelben Kleid zum Bolzplatz zurück.
7
Tags darauf sollten mehrere Zeitungsberichte über die zwei Generäle erscheinen, die »ihre Waffe auf die Jugendlichen des Viertels gerichtet« hätten. Es wäre zu lesen, dass man die Nationalgendarmerie zu Hilfe gerufen habe, die schnell zur Stelle gewesen sei, Zeugen befragt und eine Untersuchung eingeleitet habe, und dass die Anwohner erklärt hätten, es nicht zu dulden, dass auf dieser Fläche fette Generalsvillen hochgezogen würden. Die grösste Tageszeitung im Land publizierte einen Artikel, der die Runde durch alle sozialen Netzwerke machte.
DELY BRAHIM: DAS FELD DER ZWIETRACHT
Seit gestern steigt die Spannung in Dely Brahim. Streitgegenstand ist ein freies Feld von etwa anderthalb Hektar Fläche im Zentrum der Cité du 11-Décembre-1960, das von den Jugendlichen aus der Nachbarschaft bisher als Bolzplatz genutzt wird.
Am gestrigen Vormittag gaben zwei Generäle bekannt, dass sie dort Villen bauen wollten, was den Zorn der Anwohner hervorrief. Es kam zu einer handgreiflichen Auseinandersetzung zwischen ihnen und einigen Jugendlichen. Die an den Tatort gerufene Gendarmerie СКАЧАТЬ