Название: Dezemberkids
Автор: Kaouther Adimi
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Lenos Babel
isbn: 9783857879869
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Adila wettert: »Und kein Wort davon, wie schwierig das wird, ohne Auto oder gescheiten Nahverkehr zur Arbeit zu kommen? Das ganze Land habt ihr euch einverleibt, ihr Ganoven, und jetzt teilt ihr Brosamen aus!«
Durch das offene Küchenfenster hört man den Regen, der wieder zu pladdern anfängt. All diese Geräusche haben doch etwas Beruhigendes – anders als die Stille, die seltsamerweise sehr lärmend sein kann, denkt Jasmin. Natürlich war es idiotisch von ihr, andauernd solche Angst zu haben. Jasmin weiss das und erzählt keinem Menschen davon.
Wenn sie abends heimkommt, hat sie immer Angst, das Haus leer vorzufinden. Ihre Mutter ist trotz ihres Alters viel unterwegs. Vor zwei Jahren hat sie einen Verein für Frauen gegründet, die Opfer häuslicher Gewalt geworden sind. Und ihre Tochter lässt, wenn sie nicht gerade Schule hat, kein einziges Fussballmatch in der Siedlung aus, ständig sitzt sie am Feldrand und schaut zu.
Sobald sie die Haustür geöffnet hat, tastet Jasmin im Dunkeln nach dem Schalter, den sie ganz schnell drückt, um die Finsternis, die bösen Geister oder die Monster zu vertreiben. Während der paar Sekunden zwischen dem Moment, in dem sie heimkommt, und dem, wenn das Licht angeht, hat sie den Eindruck, es ringsum flüstern zu hören, und sie könnte schwören, dass sich in den Winkeln des Hauses die entsetzlichsten Kreaturen ducken, unter den Tischen, den Stühlen, im Badezimmer, und nur darauf warten, auf sie zuzukriechen. Das Licht vertreibt all die seltsamen Wesen ins Obergeschoss, wo sie sich unter den Betten verstecken. Manchmal stellt sie sich vor, dass das Licht nicht angehen will, die Tür hinter ihr ins Schloss fällt und das Geflüster laut und lauter wird, ihr entgegenschiesst und sie verschlingt. Dann pocht ihr Herz heftig, sie spürt, wie ihr die Haare zu Berge stehen, und hätte sie vor der Lächerlichkeit nicht noch mehr Angst als vor den unsichtbaren Monstern, sie würde laut schreiend davonrennen.
Die verrückte Alte, die im Nebenhaus wohnt, die zahnlose Alte mit ihrem hennaroten, zum Kranz geflochtenen Haar fängt immer hämisch zu kichern an, wenn Jasmin ihr über den Weg läuft: »Ein Haus voll Frauen, das muss ja böse Geister anlocken! Ein Haus voll Frauen, das muss ja die bösen Geister anlocken!«
Natürlich ahnt die Familie nichts von Jasmins Ängsten. Was sollte denn Ines, ihre elfjährige Tochter, denken, wenn sie wüsste, dass ihre Mutter sich vor Monstern fürchtet, die unter Möbeln lauern, und dass sie das Haus nicht betreten kann, ohne gleich das Licht anzuknipsen? Ines, die, ohne zu zögern, mitten in der Nacht aufsteht, um ein Glas Wasser zu holen. Und was würde Adila, ihre Mutter, sagen, die noch nicht einmal volljährig war, als sie sich heimlich dem FLN anschloss, die für ein unabhängiges Algerien kämpfte und bedenkenlos der nächtlichen Ausgangssperre trotzte?
Die Stimmen der Kinder reissen sie aus ihren Gedanken. Sie verabschieden sich voneinander, lachen, flüstern sich Geheimnisse zu, lachen wieder hell auf. Seit der ersten Klasse kennen sich die drei. Jasmin ist froh, dass ihre Tochter so gute Freunde hat. Als sie selber klein war, war sie nur von dummen und noch dazu eingebildeten Puten umgeben.
Mit ihren nun blitzblanken Sneakers laufen die Jungs vorsichtig über die von den Erwachsenen zuvor ausgelegten Kartonstege. Sie wissen, wenn sie mit sauberen Schuhen nach Hause kommen, dürfen sie, wann immer sie wollen, wieder raus zum Spielen.
Ines läuft zu ihrer Mutter in die Küche, um ihr bei den Vorbereitungen fürs Abendessen zu helfen. Jasmin nimmt eine Pfanne aus dem Regal, während ihre Tochter den Salat aus dem Kühlschrank holt.
Jasmin macht das Radio an und dreht an mehreren Knöpfen, bevor sie auf Jazzmusik stösst. Sie stellt den Ton lauter. Mutter und Tochter bewegen sich lachend im Takt. Die Glühbirne in der Küche beginnt zu flackern. Jasmin wird bleich, doch sie sagt nichts und wartet ab. Das Licht hört auf zu flimmern. Die junge Frau kann sich entspannen. Adila sitzt noch immer vor dem Fernseher. Sie brummelt, grummelt, regt sich auf und macht sich Notizen in ein schwarzes Heft, das sie seit einigen Wochen mit sich herumträgt. In einer Ecke der Küche pickt der Goldfink der Familie in seinem Napf nach Körnern, die er knackt, während er den beiden Tänzerinnen zuschaut.
Ein paar Strassen weiter isst Dschamil mit seinen Grosseltern zu Abend, einem pensionierten General und dessen Frau, bei denen er seit dem Tod seines Vaters lebt, der 2007 bei einem Bombenattentat ums Leben kam. Seiner Mutter war es nicht gelungen, das Sorgerecht für den Sohn zu bekommen, der damals gerade mal ein Jahr alt war. Der Grossvater, vor Kummer halb verrückt, wollte den Enkelsohn in der Nähe haben. Es brauchte nur einen Telefonanruf, und das ganze System, bestehend aus Richtern, Politikern, Militärs, Geschäftsleuten, diese seltsame Maschinerie, die Tausende von Männern auf allen Verantwortungsebenen des Landes umfasst, setzte sich in Gang, um die Interessen des Generals zu wahren. Und so zog Dschamil, damals noch ein Baby, im Haus seiner Grosseltern ein und sah fortan seine Mutter nicht mehr, ausser zwei-, dreimal im Jahr unter Aufsicht des Chauffeurs.
Zur selben Zeit schaufelt Mahdi seine Tomatensuppe in sich rein. Neben ihm, im Rollstuhl, sein Vater, der im November 1999 beide Beine verloren hat. Eine Mine, von Terroristen in Baraki gelegt, einem Stadtteil im Südosten von Algier. Er war frisch verheiratet und kaum dreissig Jahre alt, als die Bombe explodierte, nur ein paar Zentimeter von ihm entfernt. Seine Frau, eine der wenigen Frauen beim Militär, befand sich gerade im Armeekrankenhaus, sie hatte einen angeschossenen Kollegen dorthin begleitet, als sie erfuhr, ihr Gatte sei ebenfalls eingeliefert worden. Unterhalb vom Knie ging nichts mehr.
An diesem 2. Februar 2016 verschwinden alle drei Kinder pünktlich um 21 Uhr im Bett, wie an jedem anderen Abend auch.
3
Wie ist es passiert? So sollten die Jugendlichen im Viertel fragen, die nicht dabei waren, als es geschah. Jussef, Anfang zwanzig, würde dann bis ins Detail den Vormittag des 3. Februar 2016 beschreiben, der ein Mittwoch war.
Es war wieder ein Regentag und vielleicht 10 Uhr morgens. Eine schwarze Limousine mit getönten Scheiben fuhr vor, hielt am Rand des Bolzplatzes der Cité du 11-Décembre in Dely Brahim. Schon seit Tagesanbruch regnete es, in dichten Schnüren. Der Chauffeur stieg eilig aus, mit zwei geöffneten Regenschirmen bewaffnet, die er den beiden Insassen hinhielt, die aus dem Wagen kletterten.
Der Erste, General Saïd, war ein Mann von kleinem Wuchs mit klar konturiertem Schnauzbart, er trug eine kantige Brille mit getönten Gläsern. Er hatte glattes schwarzes Haar, ansatzweise grau meliert und straff nach hinten gebürstet, mit Seitenscheitel.
Jussef würde hinzufügen, dass etwas Eisiges von ihm ausging, das sich kaum beschreiben liesse. Er würde stammeln: »Wisst ihr, wie wenn man eine Schlange sieht, keine fette Schlange, keine Boa oder so, aber eine ganz kleine, die dich auf eine Art ansieht, dass du vor Angst wie gelähmt bist und Gänsehaut bekommst.«
Die anderen Jugendlichen, die an jenem Morgen dabei waren, nicken lebhaft.
»Ein Typ, der einem nicht geheuer ist«, würde einer von ihnen ergänzen.
Der Zweite, General Athman, war ein glatzköpfiger Riese mit buschigen Augenbrauen. Er war ganz glatt rasiert, der erste Armeeangehörige ohne Schnauzbart, den Jussef in seinem Leben sah. Er hatte ein feines, maliziöses Lächeln, das ihn selbst auf dem Höhepunkt der Schlägerei nicht verliess. Knapp siebzig dürften die Generäle sein, würde Jussef abschliessend noch bemerken, und in einer trotz ihres Alters phantastischen Verfassung, und beide hatten sie dunkle Anzüge und schwarze Wollmäntel an.
Nachdem er ihnen die Schirme gereicht hatte, zog der Chauffeur sich wieder hinter sein Steuer zurück, wo er reglos verharrte. Die beiden Männer betraten den Bolzplatz. СКАЧАТЬ