Название: Dezemberkids
Автор: Kaouther Adimi
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Lenos Babel
isbn: 9783857879869
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Die Cité du 11-Décembre gibt es seit 1987. Anfangs umfasste sie 111 Parzellen, auf denen zum Teil schon die Häuser der einstigen Kolonialherren standen. Man kann sie leicht unterscheiden: Sie haben nur eine Etage, die modernen Bauten dagegen zwei oder drei.
Sämtliche Grundstücke wurden an Angehörige der Armee verkauft, ohne dass man die Siedlung deshalb je als »Militärsiedlung« bezeichnet hätte. Zu den erwähnten 111 Parzellen kamen später 74 weitere hinzu. In der Mitte dieses Ensembles, gegenüber dem Haus von Adila, liegt ein rund anderthalb Hektar grosses Terrain, unter dem bis zum Jahr 2010 die Gasleitungen verliefen.
Welche Pläne hatten der Stadtplaner, der Architekt oder der damals zuständige Funktionär wohl für dieses grosse Terrain gehabt? Vermutlich wollten sie dort Bäume pflanzen, ein paar Spielplätze anlegen, dazu Sitzbänke und hier und da eine Bahn fürs Pétanque-Spiel der Rentner. Nichts von all dem geschah, man überliess es sich selbst. Ebenso wenig wurden die kleinen Strassen asphaltiert, die zu den rund hundert Häusern führen. Die Stadt weigerte sich zu zahlen, mit der Begründung, das Verteidigungsministerium habe die Siedlung ja in Auftrag gegeben, und dieses machte sich nie die Mühe, auf die Anfragen einiger Soldaten zu antworten, die, an Disziplin und Respekt vor der Institution gewöhnt, stets sehr höfliche Schreiben verfassten, in wenig eindringlichem und schon gar nicht drohendem Ton.
Und so blieb das Terrain über Jahre hinweg einfach Brachland. Hin und wieder liessen sich dort ein paar streunende Hunde sehen. Doch nie sah man kleine Mädchen beim Seilspringen oder Gummitwisten, nirgendwo Schaukeln, nirgends Ruheständler, die gemächlich ihre Pétanque-Kugeln schoben. Nichts als ein dreckiges, an Regentagen verschlammtes, den Rest des Jahres über staubtrockenes Gelände voll Geröll und Felsgestein, dazu loses Gestrüpp, das im Winde trieb, der winters mächtig wehen konnte, und ein paar herrenlose Mülltonnen.
Eines Tages, vor vielleicht zwanzig Jahren, machte sich eine Gruppe von Kids daran, das Gelände zu säubern, Tore zu improvisieren, Grenzen abzustecken und sich einen Bolzplatz einzurichten. Und seit nunmehr (vielleicht nicht ganz) zwanzig Jahren wird der Platz von den Kindern und Jugendlichen der Siedlung, aber auch denen aus dem Viertel und der näheren Umgebung zum Kicken genutzt, in Zigtausenden von Matchs mittlerweile. Oh, ein Fussballplatz, wie er im Buche steht, ist es nicht. Den grünen Rasen, die exakten Linien, die Netze im Tor, all das kann man vergessen. Auf den ersten Blick sieht er wie ein Stück Brachland aus. Aber nur auf den ersten Blick.
2
Am 2. Februar 2016 preschen zwei vielleicht zehnjährige Jungs, Dschamil und Mahdi, im strömenden Regen über die grosse Brache in der Cité du 11-Décembre-1960. Sie spielen sich den Ball zu und versuchen, nicht auszurutschen. Einer der beiden steckt in einem grossen Juventus-T-Shirt, der andere hat ein Trikot der algerischen Nationalmannschaft über seinen dicken, grässlich kratzenden Rollkragenpulli gestreift, in den seine Mutter ihn gezwängt hat. Sie nähern sich dem hinteren Rand des Feldes, wo die elfjährige Ines in einem riesigen weissen T-Shirt mit dem Logo der algerischen Armee in einem Tor aus Brettern und Backsteinen steht. Ein altes weisses Bettlaken wurde gespannt, um die Bälle zu halten. Von ferne, sich im Winde blähend, sieht es aus wie ein grosses Gespenst.
Ines hört, wie Dschamil und Mahdi sich etwas zurufen, aber sie ist zu weit weg, um das Geringste zu verstehen, und das Rauschen des Windes verzerrt ohnehin jeden Ton.
Die drei Kids sind glücklich über den Dauerregen, der seit letzter Woche anhält. Ihm ist es zu verdanken, dass die Jugendlichen das Feld geräumt haben, das sie normalerweise mit ihren Grossturnieren tagelang in Beschlag nehmen. Für den Moment hat der Regen sie verjagt. Sie sitzen zu Hause, im Warmen, vor ihrem Computer. Ines, Dschamil und Mahdi fürchten weder Regen noch Schlamm.
Wenn sie spielen, stellen sie sich vor, sie seien auf einem echten Fussballplatz mit grüner Rasenfläche und Toren, wie man sie im Fernsehen sieht. Die Erwachsenen, die mit ihren Pappkartons zugange sind und ihnen lächelnd zuschauen, sind ihnen egal. Manche feuern sie an, noch schneller zu laufen, mit leicht spöttischem Unterton. Den Kindern macht das nichts aus, denn sie sind von einer rasenden Menge umringt, die ihre Vornamen skandiert: »Mah-di! Mah-di! Dscha-mil! Dscha-mil! I-nes! I-nes!« Mit dem Ball am Fuss saust Mahdi los, quer durchs halbe Stadion, ihm wachsen Flügel. Er spielt den Ball Dschamil zu, der ihn aufnimmt und das Tor anvisiert. Jeden Augenblick kann er hinknallen, immer glitschiger wird der Schlamm, doch er hält die Balance und stösst einen kleinen Schrei der Genugtuung aus, als er es bis kurz vors Tor geschafft hat.
Der Wind legt zu, die Kinder sind klatschnass, doch komplett ins Spiel vertieft.
Dschamil stoppt jäh, zwei Meter vor Ines, die mit vorgebeugtem Oberkörper dasteht und die Arme weit auseinanderreisst. Er zögert. Ines, den Pony mit der Haarspange nach hinten geklemmt, zieht die Brauen hoch. Der Regen prasselt. Mahdi brüllt: »Los, mach ’nen Treffer!« Dschamil versucht, alles auszublenden, das Geräusch der Regentropfen, das Schmatzen seiner Sneakers im Schlamm, die anfeuernden Zurufe seines Freundes, das hochkonzentrierte, gerötete Gesicht von Ines, er schliesst die Augen, macht sie wieder auf und … schiesst. Auf den Rängen springen die imaginären Zuschauer mit angehaltenem Atem von ihren Sitzen. Mahdi stösst einen gewaltigen Schrei aus. Ines schnellt vor und bekommt den Ball im Flug zu fassen, bevor sie auf die Knie fällt. Sie springt wieder auf, dreht sich einmal um sich selbst und macht das Victoryzeichen. Ein strahlendes Lächeln erhellt ihr braunes Gesicht.
»Oh, verdammt!«, flucht Dschamil.
Auf den imaginären Rängen jubelt die rasende Menge: »I-nes! I-nes! I-nes!« Kameraschwenk, Nahaufnahme von Ines, die den Ball an die Brust presst.
Es ist 18 Uhr, und endlich hört es auf zu regnen. Es ist schon dunkel.
Die Kinder gehen zu Ines nach Hause. Dazu müssen sie nur das Gelände verlassen und die kleine Strasse überqueren. Sie öffnen das schmiedeeiserne Gartentor, und schon stehen sie vor Jasmin und Adila, Ines’ Mutter und Grossmutter, die regensicher unter einem Vordach vor der Haustür, einer ganz massiven Holztür, sitzen. Jasmin mit der Kippe, Adila mit einer Tasse Tee in der Hand, beide in wattierten Morgenmänteln. Die drei Kids säubern ihre verschmierten Sneakers auf dem Hof, während die beiden Frauen sie gutgelaunt fragen, wie das Spiel gelaufen ist. Ines erzählt, wie es ihr gelungen ist, den Torschuss zu verhindern. »Ich war mir so sicher, dass Dschamil in die rechte Ecke zielen würde, ich weiss nicht, warum, ich hatte halt so ein Gefühl und hab mich schon ein bisschen zur Seite gebeugt, und dann merkte ich im letzten Moment, dass er nach links linste, und konnte im selben Augenblick, in dem er schoss, loshechten und den Ball abfangen. Die beiden waren ganz grün vor Wut!«
»Waren wir gar nicht!«, protestieren Dschamil und Mahdi im Chor. Die Frauen lachen und klatschen Ines Beifall. Adila niest, ein Zeichen, dass sie dringend ins Haus zurückmuss. Jasmin drückt ihre Zigarette im Tontopf vor der Haustür aus und folgt ihrer Mutter nach drinnen.
Und jetzt ist es Mahdi, der sich über seinen Freund amüsiert: »Dschamil, du hast vielleicht ein Gesicht gemacht, als du gesehen hast, dass Ines den Ball gehalten hat.«
»Stimmt doch gar nicht! Und ausserdem hab ich nur mit halber Kraft geschossen.«
»Von wegen«, ruft Ines. »Klar wolltest du den Ball ins Tor kriegen, dein Gesicht war krebsrot, ausserdem hast du kurz davor die Augen geschlossen, was sollte das denn? Hast du gebetet?«
»Jetzt halt aber mal die Luft an!«
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