Название: Die Geschichte Chinas als Geschichte von Fetischverhältnissen
Автор: Raimund Philipp
Издательство: Автор
Жанр: Документальная литература
isbn: 9783534400232
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Es kann davon ausgegangen werden, dass sich spätestens seit dem Neolithikum in allen Teilen der Welt »religiös konstituierte Sozietäten« entwickelt haben, die je nach Kontinent, dort je nach kulturellen Ausprägungen, bedingt durch verschiedene Faktoren, wie z.B. Umwelt, Klima, etc. je spezifische Entwicklungen und Ausformungen angenommen haben. »Die Gemeinsamkeit der vormodernen Sozietäten besteht in der Existenz von Fetischverhältnissen«, die »Differenz in der unterschiedlichen Ausformung«, ob diese nun marginal waren oder nicht, bedarf einer konkreten Untersuchung.
In der einschlägigen Literatur über die so genannte Vorgeschichte der Menschheit, hier dem „vor-chinesischen“ Neolithikum, wird der Begriff »Fetischverhältnis« nicht verwendet, allenfalls taucht das Wort »Fetisch« auf, um damit ein »sakrales Artefakt« zu bezeichnen. Zwar gehen die Sinologen mehr oder weniger ausführlich auf den »Glauben an übersinnliche Kräfte und Mächte« ein, auf die Bedeutung und Rolle, die z.B. »Animismus«, »Schamanismus«, die »Gottheiten« »shangdi« und »tian« etc. gespielt haben, aber sie sehen in diesem »Glauben« nur einen Faktor neben anderen Faktoren, der/die das Leben der Menschen und deren soziale Entwicklung bestimmte. Dass der »Glaube« an ein »transzendentes göttliches Prinzip«, das eine Sozietät »religiös« konstituierte und damit die Daseins- und Lebensverhältnisse objektiv beherrscht, also eine »Realmetaphysik« hervorbringt, wobei diese »Fetischverhältnisse« zu einer »apriorischen Matrix« erstarren, die nicht mehr hinterfragt wird – auf diesen Trichter kommen sie nicht, denn es ermangelt ihnen an einer kohärenten und konsistenten Theorie. Abzulesen ist dies daran, dass die betreffenden Autoren vormoderne und moderne Kategorien mir nichts dir nichts durcheinander würfeln. D. h., es kommt ihnen gar nicht in den Sinn, zwischen »vormodernen« und modernen »Fetischverhältnissen« und den jeweiligen Kategorien zu differenzieren. So versteigen sich so ziemlich alle Sinologen zu der Behauptung, dass Staat und Politik eine wesentliche Rolle, wenn nicht gar die entscheidende in der Geschichte des ausgehenden „vor-chinesischen“ Neolithikums, der Bronzezeit etc. gespielt hätten (vgl. u.a. Chang 1983, Liu/Chen 2003, Liu 2004). Anders formuliert: bei der Lektüre der verschiedenen Abhandlungen über die genannten Epochen fällt unweigerlich die Rückprojektion moderner – verdinglichter, säkularer – Kategorien auf, die mit vormodernen – »personalen«, »sakralen« – Kategorien in einen Topf geworfen werden. Diese transhistorische Vorgehensweise ebnet die Differenz zwischen Vormoderne und Moderne ein.
Nehmen wir als Beispiel die oben schon erwähnten modernen Kategorien Staat und Politik – verdinglichte Herrschaftsinstrumente des Kapitalverhältnisses (vereinfacht formuliert, vgl. dazu das Kapitel Die Grundkategorien des modernen warenproduzierenden Systems und ihre abgeleiteten Funktionselemente) -, Kategorien, die von den Sinologen hyperinflationär verwendet werden, um womöglich einen weiteren roten Faden in die mehr als 3.000 Jahre als Zivilisation einzuweben.9 Wenn dem so seien sollte, ist dieser Versuch überflüssig wie ein Kropf, denn die Besonderheit dieses Reiches besteht allein schon darin, dass es die einzige Hochkultur ist, die nie unterging und auch die Eroberung durch Fremdvölker (Yuan, 1271-1368; Qing, 1644-1911) mehr oder weniger unbeschadet überstand und im oben genannten Zeitraum kulturelle Errungenschaften und Erfindungen hervorbrachte, die in anderen Teilen der Welt z.T. erst Jahrhunderte später entwickelt bzw. erfunden wurden.
Zu fragen ist also zuerst einmal, ob die Kategorien Staat und Politik in den klassischen Schriften – die z.T. erst mehrere Jahrhunderte oder noch später nach dem ausgehenden Neolithikum und den drei Dynastien (Xia, trad. 2205-1267 v. u. Z.; Shang, 16.-11. Jh. v. u. Z.; Zhou 1045-221 v. u. Z.) verfasst wurden – expressis verbis und in der Bedeutung auftauchten, die sie heute in der Moderne als abgeleitete Funktionselemente des Kapitalverhältnisses haben. Wohl kaum (vgl. dazu das Kapitel „Die Richtigstellung der Namen“)! Es stellt sich ferner die Frage, ob die Verfasser der einschlägigen Werke sich überhaupt Gedanken darüber gemacht haben, ob die damals lebenden Menschen des „vor-chinesischen“ Neolithikums bzw. der drei Dynastien sich als politisch agierende Personen verstanden haben, die überdies in einem Staat gelebt haben sollen und nicht in einem »religiös konstituierten Gemeinwesen«, dessen Vergesellschaftungsgrad im Gegensatz zur heutigen Zeit äußerst gering war. Anders formuliert: würde man einen im „vor-chinesischen“ Neolithikum bzw. in den drei Dynastien lebenden Bauern, Handwerker, Krieger oder gar einem »Schamanen« sagen – die Herrscher übten die »schamanistischen Rituale« höchstselbst aus (vgl. u.a. Chang 1983) -, dass er in einem Staat leben würde und er ein politisch geprägtes Individuum sei, er/sie würde(n) nicht nur verständnislos mit dem Kopf schütteln, sondern er/sie würde(n) sofort die »animistischen Geister, die Götter, den Himmel und die Ahnen« anrufen und um »göttlichen Beistand« bitten.10
Es gibt einen wesentlichen Grund, der es verbietet, von Staat und Politik zu reden, die angeblich schon seit dem ausgehenden Neolithikum existiert haben sollen: Die »Religion« war keine Ideologie, keine subjektive »Glaubensfrage« (vgl. Kurz 2012, S. 72), sondern konstituierte „reale Verhältnisse (…), also die jeweilige Reproduktion des irdischen menschlichen Lebens und seiner sozialen Zusammenhänge“ (ebd., S. 71). Um es noch deutlicher zu formulieren: Das »transzendente Gottesverhältnis« basierte auf dem »Opferverhältnis« und aus diesem „ist offenbar die Sozietät als solche entsprungen; die Opferhandlungen, die damit verbundenen Rituale etc. bilden die ursprüngliche Matrix sowohl für das Naturverhältnis als auch für das soziale Verhältnis“ (ebd., S. 73). Die aus einem „blinden, verselbständigten, inhaltsfremden und realmetaphysischen Regelsystem(s)“(ebd., S. 72) entstandenen »Fetischverhältnisse« hatten ihre eigene „bestimmte Logik (…), [die] keine eigengesetzliche andere neben sich dulden konnte“ (ebd., S. 91) analog zum anders konfigurierten Kapitalverhältnis, das keine „alternative“ Wirtschaftsformen neben sich duldet. Sind sie einmal entstanden – z.B. die so genannten sharing economy, crowd funding oder „die Tauschidealisten als historische Idioten der Aufklärungsideologie“ (ebd., 412) – werden sie sofort dem Prozess der Verwertung des Werts unterworfen.
Greifen wir noch einmal auf die obigen Kategorien Staat und Politik zurück. Während diese Kategorien mehr oder weniger gleichursprünglich mit dem Kapitalverhältnis – Staatsbildungskriege, Feuerwaffen-Ökonomie (Kurz) – entstanden sind und im Laufe des Durchsetzungs- und Aufstiegsprozesses zu dessen abgeleiteten Funktionselementen mutierten und seiner (des Kapitalverhältnisses) eigengesetzlichen Logik zu folgen hatten – Staat und Politik als verdinglichte Herrschaftsinstrumente, die den reibungslosen Produktionsprozess zu gewährleisten hatten (Infrastrukturmaßnahmen i. w. S. d. W.) – konstituierte das »transzendente göttliche Prinzip religiöse Sozietäten«, die auf dem »Opferverhältnis« basierten, dass bestimmte »Rituale« hervorbrachte, die durch den Herrscher vollzogen wurden – als »personifiziertes Herrschaftsverhältnis« -, der als »Stellvertreter Gottes« Mittler zwischen der weltlichen und der »übersinnlichen Sphäre« fungierte.
Obwohl die Sinologen mehr oder weniger ausführlich auf die »rituellen Opferhandlungen« eingehen – »Menschen- und Tieropfer« z.B. bei den Shang, weitgehende »Substituierung« ersterer durch die Zhou – erkennen sie den tatsächlichen Charakter dieser Sozietät nicht, die »religiös« konstituiert war und ein gänzlich anderes »Fetischverhältnis« hervorbrachte, das seine eigene Logik hatte. Hier haben wir, wie oben schon erwähnt, erneut eine Gemeinsamkeit von Vormoderne und Moderne vor uns: keines dieser »Fetischverhältnisse« duldet andere eigengesetzliche neben sich (s. w. o.) Trotzdem kommen die Sinologen vollkommen unvermittelt zu der Schlußfolgerung, dass durch die »Religion« politische Macht entstanden sein soll.
Da, wie schon erwähnt, die Sinologen, Historiker etc. über keinen kohärenten und konsistenten Theorieansatz verfügen – was die betreffenden Vertreter der einzelnen Fachgebiete natürlich anders sehen – muss hier die Theorie der Geschichte als Geschichte von Fetischverhältnissen in Grundzügen СКАЧАТЬ