Название: Das Netz ist politisch – Teil I
Автор: Adrienne Fichter
Издательство: Автор
Жанр: Зарубежная публицистика
isbn: 9783038053460
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Später wird er erzählen, dass er damals schon etwas wusste, was die Öffentlichkeit erst vor einigen Wochen dank dem «Guardian» schwarz auf weiss erfahren hat: dass Facebook einmal mehr gelogen hatte. Der Konzern beteuerte mehrfach, dass es seit 2014 keinen Fall wie Cambridge Analytica gegeben habe. Dass man die Zugänge für unberechtigte Datenabflüsse gekappt habe.
Doch am 5. Dezember 2018 veröffentlichte das britische Parlament Dokumente[19], die das Gegenteil bestätigen. Topkunden wie Airbnb und Netflix hatten private Deals mit Facebook eingefädelt. Sie standen auf einer weissen Liste und konnten weiterhin ungebremst private Informationen absaugen. Es ist die jüngste PR-Katastrophe des grössten sozialen Netzwerks. Und wieder war Paul-Olivier Dehaye einen Schritt voraus.
Immer unter Strom
Nicht nur Facebook steht auf Dehayes Liste. Ihn faszinieren alle Technologien, in denen soziale Beziehungen in Daten und damit auch in Geld umgewandelt werden, etwa Dating-Apps oder die Sharing-Economy-Plattformen. Tinder ist eine weitere Blackbox, die er fast knackte.
Dehaye unterstützte die Journalistin Judith Duportail im September 2017 bei der Beschaffung ihrer persönlichsten Daten[20] für eine «Guardian»-Recherche. Dieser Kampf sei hart gewesen, sagte er. An dem Heer von Tinder-Anwälten hat sich das Duo fast die Zähne ausgebissen.
Doch am Ende erhielten Duportail und Dehaye, was sie verlangten. Ein Dokument von 800 Seiten. Darin steht, wo sich Duportail befand, als sie mit ihrem ersten Match flirtete, welche Musikvorlieben sie hat, welche Ausbildung sie absolvierte. Duportail bekam zwar nicht alle Informationen, die sie verlangte – schuldig blieb ihr Tinder etwa den Attraktivitätsscore, eine Zahl, mit der das System festlegt, wie schön oder hässlich eine Tinder-Nutzerin ist. Aber immerhin, die 800 Seiten waren ein Anfang.
«Tinder zeigte sich völlig verblüfft», sagt Dehaye. «Wir waren die Ersten überhaupt, die das taten. 90 Prozent der Netzaktivisten und Journalisten hätten wohl bei dem juristischen Widerstand aufgegeben. Wir haben weitergemacht.»
Dehayes Augen leuchten, wenn er von diesen Siegen erzählt. Sie verschaffen ihm Genugtuung: «Es regt die Technologiekonzerne ja so auf, wenn Leute wie ich kommen, ihr Vokabular kennen und sie mit Fragen löchern. Um zu antworten, müssen sie alles mühsam rekonstruieren.»
Ganz uneigennützig ist seine Medienarbeit nicht. Jeder erschienene Artikel, an dem er mitgewirkt hat, ist Werbung für ihn und für seinen Dienst PersonalData.IO. Ein kostenloser Service, mit dem man bequem persönliche Datenauskünfte bei allen Technologiekonzernen bestellen kann. Nach der Publikation des Tinder-Artikels hatten 300 Personen über PersonalData.IO ihre Tinder-Daten angefordert.
Doch Geld verdienen will Dehaye mit seinem Dienst noch nicht. PersonalData.IO bringt dem bald dreifachen Familienvater keinen Rappen ein. Er finanziert sein Angebot mit Spenden und seinen Honoraren aus Vorträgen.
Kürzlich erhielt er auch finanzielle Unterstützung von der George-Soros-Stiftung Open Society Foundations und dem Data Transparency Lab, einem Forum für Datentransparenz, hauptsächlich finanziert durch die spanische Kommunikationsanbieterin Telefónica. Damit kann Dehaye seine Mitarbeiter knapp finanzieren. Auch sein neues Amt als Verwaltungsrat der internationalen Organisation MyData ist ehrenamtlich. Hauptverdienerin ist derzeit seine Frau.
Der sanfte Rebell
Dem «Tages-Anzeiger» erzählte[21] Paul-Olivier Dehaye einmal, dass er seinen Job als Mathematikprofessor in Zürich wegen eines Burn-outs nach dem Zerwürfnis mit der Universität Zürich aufgegeben habe und mit seiner Familie nach Genf gezogen sei.
Doch man hat den Eindruck, dass der 37-Jährige immer noch unter Strom steht. Fragen nach dem Gespräch beantwortet er in Sekundenschnelle, auch nachts. Geschätzte zehn A4-Seiten E-Mail-Korrespondenz seien produziert worden zwischen ihm, Dublin und dem Silicon Valley.
Wieso tut er sich diese unbezahlte Arbeit an, obwohl ihm keine der zwei Milliarden Facebook-Nutzerinnen je dafür danken wird? «Weil es unser Recht ist, ganz einfach.» Hier spricht der Idealist, der Rebell. «Meine grösste Hoffnung ist, dass die Leute wissen, dass sie digitale Rechte haben, die sie einfordern können. Dass es endlich eine Bewegung geben wird.»
Den Idealismus möchte Dehaye irgendwann überwinden, um dann von seinem Dienst PersonalData.IO leben zu können. Er hofft, dass es einen Markt für datenschutzkonforme Dienstleistungen geben wird. Dass sich dafür endlich Investoren gewinnen lassen. Sollten Google und Facebook seine Dienste anfordern, würde er nicht Nein sagen.
Ist es Besessenheit?
Als der Vorsitzende des Brexit-Untersuchungsausschusses im März gegen Ende des Verhörs – als alles gesagt war – fragte, ob die beiden Zeugen noch eine wichtige Anmerkung hätten, nutzte Dehaye die Gelegenheit[22].
Er setzte zum feurigen Schlussplädoyer an. Und forderte Englands Politikerinnen dazu auf, weiterhin alle Machenschaften des Konzerns zu untersuchen. Und dabei nicht vorschnell über deren mögliche Wirkung zu urteilen.
In diesem Schlussstatement steckte viel von Dehayes Kompetenz. Aber es schwang auch viel Enttäuschung und Verbitterung mit. Es kränkte Dehaye, dass in der Aufarbeitung der Manipulationen um Cambridge Analytica Zweifel und Relativierungen den Ton angaben. Als ob die Machenschaften irgendwie doch halb so wild gewesen seien. Auch hat Dehaye Mühe, Kritik am «Bomben»-Text des Magazins zu akzeptieren. Er verteidigt den Inhalt, wie wenn mit jedem kritischen Satz er persönlich infrage gestellt würde.
Dehayes Sichtweise hat etwas Resolutes, ja, manchmal fast schon Technologiedeterministisches. Für ihn ist klar: Die sozialen Netzwerke tragen eine grosse Mitschuld an vielen aktuellen Problemen. Das sehe man, so Dehaye, gegenwärtig anhand der Gelbwesten-Proteste in Frankreich.
Vielleicht braucht es aber diese Besessenheit, diese felsenfeste Überzeugung, damit die Welt auch nur einen Bruchteil der Wahrheit über Datenkapitalismus erfährt. Wie hält man sonst so viel Widerstand vonseiten der Technologiekonzerne aus?
Sein Sitznachbar vor dem Untersuchungsausschuss, der Whistleblower Christopher Wylie, war baff nach Paul-Olivier Dehayes Schlussplädoyer: «Ich habe nichts mehr anzufügen, er hat es perfekt ausgedrückt.»
Der «Indiana Jones» lässt keinen Zweifel daran, dass er auch weiterhin gegen datenhungrige Konzerne ins Feld ziehen wird.
1 <https://www.parliament.uk/business/committees/committees-a-z/commons-select/digital-culture-media-and-sport-committee/inquiries/parliament-2017/fake-news-17-19/> ↵
2 <https://www.parliament.uk/business/committees/committees-a-z/commons-select/digital-culture-media-and-sport-committee/news/fake-news-christopher-wylie-evidence-17-19/> СКАЧАТЬ