Название: Das Netz ist politisch – Teil I
Автор: Adrienne Fichter
Издательство: Автор
Жанр: Зарубежная публицистика
isbn: 9783038053460
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«Reverse Engineering» – so heisst Dehayes Recherchemethode. Das Prinzip: Wenn die Plattformen keine Auskunft über ihre Funktionsweise geben wollen, dreht man den Spiess einfach um. Und setzt am anderen Ende der Verwertungskette an. Bei sich selber.
Facebook-Nutzer Paul-Olivier Dehaye verlangt also vom Unternehmen seinen persönlichen digitalen Fussabdruck. Anhand dieses Datensatzes rekonstruiert er die Mechanismen hinter der Plattform. Mit dem Ziel, deren Blackbox zu knacken.
Was zum Teufel sollte diese Werbung?
Die Methode funktioniert. Dehaye macht die Probe aufs Exempel und kommt damit dem Datenhandel des Leave.EU-Lagers[11] auf die Schliche.
Dehaye registrierte sich für den Newsletter von Leave.EU. Es vergingen einige Tage, bis die erste Ausgabe in seinem Postfach landete. Weit unten in der E-Mail sah er eine Werbeanzeige von GoSkippy, einem Unternehmen der Eldon-Versicherungsgruppe. Dehaye wurde stutzig. Wieso zum Teufel zeigen die Brexit-Anhänger ihm – der in der Schweiz wohnhaft ist – Anzeigen für eine britische Autoversicherung?
Dehaye hatte einen Verdacht. Er wusste, dass die Eldon-Gruppe Arron Banks gehört. Und Banks ist kein Unbekannter. Er ist der Christoph Blocher von Grossbritannien. Ein schwerreicher, konservativer Millionär und Mitgründer der Kampagne Leave.EU.
Dehayes Vermutung war also: Das Brexit-Lager verwendet denselben Datensatz wie die Versicherung. Mit anderen Worten: Die Brexit-Befürworter betreiben illegalen Datenaustausch.
Um seine These zu untermauern, spannte Dehaye mit der renommierten Journalistin Carole Cadwalladr zusammen. Er unterstützte sie bei der korrekten Ausformulierung eines subject access request, eines umfassenden Auskunftsbegehrens. Sein Verdacht bestätigte sich: Die Brexit-Kampagne bediente sich der Daten von Eldon-Versicherten. Wer versichert war, erhielt Brexit-Werbung zu Gesicht. Auf allen Plattformen.
Mit diesem Wissen[12] wurde Paul-Olivier Dehaye neben dem pinkhaarigen Whistleblower Christopher Wylie zur wichtigsten Informationsquelle für das britische Parlament. Weil Facebook sich weigerte, auf die fünfzehn Fragen des Brexit-Untersuchungskomitees im Detail[13] zu antworten, griff das Komitee auf die Expertise des unabhängigen Datenschutzexperten zurück.
Der Labour-Abgeordnete Ian Lucas, einer der leitenden Köpfe bei der Untersuchung zum Brexit, sagt: «Das Wissen und die Dienste von Paul-Olivier Dehaye sind für uns von unschätzbarem Wert.»
Doch nicht nur Grossbritannien erhielt dank Dehayes Hartnäckigkeit Klarheit darüber, was da eigentlich während des Brexit-Referendums in der digitalen Sphäre passierte.
Auch die zwei Milliarden Facebook-Nutzerinnen erhielten seinetwegen mehr Transparenz. Weil das soziale Netzwerk nachgegeben hat. Und eine der sensibelsten Informationen für alle sichtbar machte: Mit ein paar wenigen Klicks in Ihren Profileinstellungen[14] erfahren Sie, ob Spotify oder Netflix Ihre persönlichen Daten an Facebook weiterverschenkt haben.
Ein Sieg für Paul-Olivier Dehaye, den man in Wissenschaftskreisen den «Indiana Jones des Datenschutzes»[15] nennt. Aber nur ein Etappensieg.
Zwist und Zerwürfnis in Zürich
«Paul ist ein Rebell mit einem grossen Sinn für Gerechtigkeit», sagt der ETH-Professor Ernst Hafen. Er ist wie Dehaye ein Verfechter von MyData – einer Bewegung, die für digitale Selbstbestimmung eintritt. Hafen arbeitete in Zürich mit Dehaye zusammen.
Zürich hat in Dehayes Laufbahn eine besondere Bedeutung. Es ist die Stadt, in der sein Kampf gegen die Datenkonzerne begonnen hat. Nämlich gegen das amerikanische Unternehmen Coursera, eine Bildungsplattform zur Übertragung von Vorlesungen im Internet.
Der damals an der Universität Zürich angestellte Mathematikprofessor deckte gemeinsam mit NDR-, «Süddeutsche»- und SRF-Journalisten[16] auf, dass das Netzwerk Alter, Geschlecht, Fähigkeiten und Arbeitszeiten der Studierenden sammelte und mutmasslich weiterverwendete. Mathematikprofessor Dehaye rief seine Studierenden zum Boykott der Plattform auf und klagte die Herausgabe seiner persönlichen Daten ein.
Die Universität Zürich hielt an Coursera fest. Trotz potenziell groben Verstössen gegen das Schweizer Datenschutzgesetz. Es kam zum Zerwürfnis zwischen der Universitätsleitung und Dehaye. Der Aktivist verliess daraufhin die akademische Welt.
Ernst Hafen war damals einer der wenigen, die Dehayes Engagement gegen die Bildungsplattform Coursera unterstützten. Und bewunderten. «Paul sieht weiter.»
«Too big to comply»
Und Dehaye sah in der Tat weiter. Nämlich, dass Mark Zuckerberg beim Tech-Hearing vom 11. April 2018 in Washington nicht die Wahrheit sagte. Der demokratische Senator Richard Blumenthal fragte den Facebook-Gründer[17] direkt, ob jede Nutzerin alle Datenspuren inklusive Tracking-Daten über sich erfahren könne.
Zuckerbergs Antwort: «Ja, jeder könnte diese Daten herunterladen.»
Doch das war falsch. «Zuckerberg hat zweimal vor laufender Kamera die Politiker Washingtons und auch die ganze Welt angelogen», behauptet Dehaye.
Dehaye weiss das, weil er via E-Mail dieselbe Frage an Facebook stellte. Und eine ganz andere Antwort bekam. Das war am 7. März 2018, rund einen Monat vor Zuckerbergs Aussage im Senat. Es war das letzte Schreiben in einem zähen einjährigen E-Mail-Verkehr.
«Sie schrieben mir: ‹Wir können Ihnen keine Auskunft geben, Ihre Anfrage ist zu kostspielig. Es ist zu aufwendig, alle diese Tracking-Daten aus den Webseiten herauszuziehen.› Dafür sei ihr System nicht gemacht.»
Mit anderen Worten: Facebook ist too big to comply – zu gross, um das Datenschutzgesetz einhalten zu können. Dehaye war fassungslos, als er die Zeilen las.
Facebooks Eingeständnis, den gesetzlichen Datenschutz zu missachten, zitierte Dehaye am 28. März 2018. An dem Tag, als er erstmals als Zeuge vom britischen Parlament eingeladen worden war. Das Team von Senator Blumenthal fand die Mitschrift später im Internet. Und konfrontierte[18] Mark Zuckerberg im Juni 2018 mit seiner Falschaussage.
Dehaye weiss viel über die Praktiken der Tech-Konzerne. Seine Antworten sind wohlüberlegt, berechnend. Kein Wort zu viel, keines zu wenig. Er achtet penibel genau darauf, wem er welche Information СКАЧАТЬ