Название: Das Netz ist politisch – Teil I
Автор: Adrienne Fichter
Издательство: Автор
Жанр: Зарубежная публицистика
isbn: 9783038053460
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Denn nicht nur fehlt der jetzigen Verfassung ein angemessenes System von «Checks and Balances». Sie ist im Grunde auch nur geliehen.
Es handelt sich um eine Kopie der dänischen Verfassung. Eine Notlösung. Denn während die Kontinentaleuropäer einander im Zweiten Weltkrieg niedermetzelten, nutzte Island die Gelegenheit, sich endgültig von Dänemark loszueisen. Am 17. Juni 1944 wurde die Republik ausgerufen. Die Vulkaninsel mit den damals knapp 140’000 Einwohnerinnen[5] war endlich unabhängig. Doch für einen echten, langwierigen Verfassungsprozess blieb keine Zeit.
Das Baby der neuen Regierung
Obwohl im «Dänemark-Klon» nicht explizit erwähnt, herrscht über allen Grundrechten noch der Geist eines dänischen Königs. Darum soll das Land nun, im Nachgang der Finanzkrise, endlich auch eine eigene Verfassung erhalten. Geschrieben von allen Bürgerinnen und Bürgern des Landes, von Isländerinnen für Isländer. «Wir waren überzeugt: Mit isländischen Werten werde diese Gier getilgt», sagt Robert Bjarnason, Mitgründer der heutigen Citizens Foundation und erfolgreicher Politikunternehmer.
«Wir wollten unsere Würde zurückhaben», sagt Smári McCarthy, ein isländischer Abgeordneter der Piratenpartei. McCarthy ist ein konsequenter Mann. Will man mit ihm über damals sprechen, über den Zusammenbruch und die Zeit, als plötzlich alles möglich schien, dann wählt er den Treffpunkt sehr bewusst. Die «Te & Kaffi»-Filiale am Laugavegur. Das sei die «isländische Antwort auf den Raubtierkapitalismus von Starbucks». Die amerikanische Kaffeekette hat es bis heute nicht geschafft, Fuss zu fassen auf der widerborstigen Vulkaninsel.
Live-Chats zur Verfassung
Das Verfassungsprojekt startet erfolgreich. Zuerst sind sich alle Parteien über das Verfahren[6] einig: Am 6. November 2010 sollen 950 zufällig ausgewählte Bürgerinnen eine Einladung aus Reykjavik erhalten. Ihr Auftrag: Ideen und Eckpunkte zu sammeln. Das Resultat mündet in einen 700-seitigen Bericht. Nun soll ein Kondensat dieses Crowdsourcings her.
Wieder sollen Bürger und nicht Politikerinnen anpacken. In der zweiten Runde sind es aber deutlich weniger. 25 Bürger kommen im Verfassungsrat, dem Stjórnlagaráð[7], zusammen. Hunderte kandidieren für den Rat. «Es war absolut ‹in›, sich für den Verfassungsrat zu bewerben», erinnert sich Smári McCarthy. Und jede kannte jeden Kandidaten über drei bis vier Ecken.
Mit schrägen Kampagnen erklären die Kandidatinnen, weshalb ausgerechnet sie für dieses staatspolitische Amt am besten geeignet seien.
Kaum gewählt, wagt der Rat bereits das nächste netzpolitische Experiment. Er überträgt seine Sitzungen live auf Youtube. Jeder Baustein des Entwurfs[8] kann kommentiert werden, wiederum natürlich im Internet. Stolz erklärt[9] das Stjórnlagaráð-Ratsmitglied Thorvaldur Gylfason: «Die ganze Öffentlichkeit kann live zuschauen, wie die neue Verfassung entsteht.»
Ein derartiges Crowdsourcing-Experiment in Sachen Demokratie hat die Welt zuvor noch nie gesehen. Medien wie der «Guardian»[10], die «New York Times»[11] und die «Süddeutsche»[12] berichten über die digitalen Wikinger.
Im Oktober 2012 ist es dann so weit. Das Volk entscheidet, per Referendum, über den Vorschlag des Verfassungsrats. Über 70 Prozent nehmen den Entwurf an. Der Urnengang hat zwar nur Umfragecharakter (mehr lässt nämlich der alte Dänemark-Klon gar nicht zu), aber bietet Stoff für Streit. Denn beim Referendum steht nicht nur der Entwurf des Verfassungsrats zur Debatte, sondern eine ganze Reihe weiterer Fragen[13]. Heikle Fragen. Machtfragen.
Sprengsatz für die Fischerei-Lobby
Plötzlich droht der Prozess zu entgleisen. Nicht wegen der potenziellen Entmachtung der Legislative, etwa die Referendumsfrage, an der sich die Parteien und Politikerinnen aufreiben. Nicht wegen der Venedig-Kommission des Europarats, die kurz vor den nächsten Parlamentswahlen den Verfassungsentwurf kritisiert, weil er «mangelnde inhaltliche Kohärenz» aufweise. Nicht wegen der Verfassungsrechtler[14], die die mangelnde juristische Fachkenntnis der gewählten Bürgerinnen kritisierten.
Der Prozess kommt ins Schleudern, als die Wirtschaftslobby aufzubegehren beginnt. Und sie tut das wegen dieser Referendumsfrage:
«Sollen die natürlichen Ressourcen den Bürgerinnen und Bürgern Islands gehören?»
Jedem Isländer ist klar, was damit gemeint ist: Der Fischerei-Markt soll liberalisiert und demokratisiert werden. Die Fischerei macht 25 Prozent des Bruttosozialprodukts Islands aus. Ihre Lobby hat in enger Verbandelung mit der konservativen Unabhängigkeitspartei über Jahrzehnte ihre Pfründen abgesichert.
Mit einem Inkrafttreten des neuen Regelwerks wären diese Privilegien verloren. Denn die neue Verfassung sieht auch eine angemessene Besteuerung der Fischerei-Unternehmen vor.
Die monatelange Obstruktionspolitik der Konservativen beginnt. Die Unabhängigkeitspartei beginnt, den Verfassungsprozess zu sabotieren.
Der Held hat den Untoten Glámur nicht vollends besiegt. Der ist wieder zurück und lässt seine Muskeln spielen.
Zermürbungstaktiken brechen den Willen
Smári McCarthy spricht von «Filibustering». Er meint damit das Hinhalten, Schlechtreden und Stimmungmachen gegen die «linke» Verfassung durch die Unabhängigkeitspartei. Meist agiert sie hinter vorgehaltener Hand. Es gibt nur wenige sichtbare Exponentinnen der Opposition gegen die Verfassung.
Nur vereinzelte konservative Politiker wie Birgir Ármannsson treten in der Öffentlichkeit dagegen auf. Er nennt die Abstimmung eine «teure Meinungsumfrage».[15]
Der Untote Glámur ist geschickt. Er intrigierte in verschiedenen Gewändern und Gestalten gegen den Helden.
Zwar haben die Konservativen die Exekutive eingebüsst. Aber anderswo sind sie noch an der Macht. Sie stellten die meisten Richterinnen am Obersten Gericht. Und dieses verneint schliesslich СКАЧАТЬ