Название: Ende offen
Автор: Peter Strauß
Издательство: Readbox publishing GmbH
Жанр: Зарубежная публицистика
isbn: 9783347020290
isbn:
Die Steinzeit ist für mich der Maßstab, an dem sich unsere Zivilisation messen lassen muss. Wir sollten es schaffen, bei unserer Entwicklung nicht hinter die damalige Qualität zurückzufallen. In den folgenden Kapiteln möchte ich auf Hintergründe eingehen, die unser Leben und unser Zusammenleben jahrtausendelang bestimmt haben und die auch heute noch gültig sind. Mich beschäftigt, woher wir kommen und warum wir uns so entwickelt haben.
Wir beschwören oft den „inneren Schweinehund“, der uns faul mache und uns daran hindere, die bei uns hoch bewertete Leistung zu erbringen. Es entsteht der Eindruck, Faulheit sei falsch, Eifer, Leistung, und permanente Anstrengung dagegen grundsätzlich gut und richtig. Doch die Evolution hat uns die Muße mitgegeben, damit wir in friedlichen Situationen, wenn ausreichend Nahrung vorhanden ist, unsere Kräfte schonen. Würden wir heute Faulheit weniger sanktionieren, wären stressbedingte Erkrankungen Vergangenheit.
Zurück in die Steinzeit?
Einer meiner Lektoren merkte an: „Willst du wirklich, dass wir in die Steinzeit zurückfallen – ständiger Kampf ums Überleben und eine Lebenserwartung von maximal dreißig Jahren?“ Doch waren unsere Vorfahren tatsächlich pausenlos auf der Suche nach Nahrung, mussten sich ununterbrochen gegen wilde Tiere verteidigen, und ereilte sie nach einem entbehrungsreichen Leben ein früher Tod?
Die ersten Menschen dürften weniger durch Fressfeinde bedroht gewesen sein, als gemeinhin angenommen. Raubtieren stand mit großen Herden von Pflanzenfressern reichlich Beute zur Verfügung. Darüber hinaus nahm die Bedrohung ab, als Waffen entwickelt wurden, also etwa vor zweieinhalb Millionen Jahren.
Die Nahrungssuche dürfte wesentlich einfacher gewesen sein, als wir im Jagen mit Pfeil und Bogen ungeübten Europäer uns das vorstellen. In der Geschichte der Evolution haben meist die Arten überlebt, die noch Zeitreserven hatten: Wer schon in guten Zeiten immer auf Nahrungssuche ist, wird beim ersten Wetterumschwung verhungern.12
Und wie steht es mit der Lebenserwartung? Die Daseinsspanne der Jäger und Sammler wird meist mit gerade einmal dreiunddreißig Jahren angegeben.13 Allerdings lag die Kindersterblichkeit bei einem Drittel bis zu einer Hälfte. Auf jedes gestorbene Kind unter zehn oder fünfzehn Jahren muss es demnach rechnerisch einen Menschen gegeben haben, der über fünfzig Jahre alt wurde. Das niedrige arithmetische Mittel schließt nicht aus, dass es auch unter den Jägern und Sammlern Achtzigjährige gab.14
Das stärkste Argument dafür, dass es auch in der Altsteinzeit Menschen höheren Alters gegeben haben muss, ist, dass die Evolution die Möglichkeit dazu in uns angelegt hat. Dass wir so alt werden können, ist mit hohem Aufwand verbunden: Die Alterung von Zellen muss verlangsamt werden, Krebszellen müssen beseitigt und beschädigte DNS muss repariert werden, langsame Vergiftungen durch Umwelteinflüsse müssen abgebaut werden können, und der Verschleiß an Knochen und Gelenken muss sich in Grenzen halten. Nicht ein einzelnes Gen entscheidet über die Möglichkeit zu altern, sondern es ist eine Vielzahl von Veränderungen erforderlich, um die Lebenserwartung anzuheben, denn sinnvollerweise altern alle unsere Körperteile und -funktionen gleichmäßig.15 Unsere Lebenserwartung ist wie alle anderen menschlichen Eigenschaften nicht zufällig entstanden, sondern das Ergebnis einer Optimierung auf bestmögliche Arterhaltung. Wenn sich die höhere Lebenserwartung nicht für uns auszahlen würde, hätte sie sich im evolutionären Prozess nie durchgesetzt.16
Die Natur als Regler
In einem technischen System dient ein Regler dazu, Einflüsse durch Störungen von außen auszugleichen und wieder einen stabilen Zustand herzustellen. Analog kann man in der Evolution eine Anpassung als die Reaktion des „natürlichen“ Reglers auf sich verändernde Umweltbedingungen betrachten. Die Veränderung der Umwelt ist die Störgröße, und die evolutionäre Anpassung ist der Regeleingriff, der zu einem neuen Gleichgewicht führt. Gibt es von einer Art zu viele oder zu wenige Exemplare, so ist die Evolution als Regler meist in der Lage, die Art durch Anpassung wieder in ein Gleichgewicht mit der Umwelt zu bringen. War die Regelung zu schwach oder die Störung zu groß, stirbt die Art aus.
Der Mensch hat durch seine Bewusstwerdung und die nachfolgende Entwicklung neue Regelungsmöglichkeiten, aber auch neue Störungen ins Spiel gebracht. Wir waren in der Lage, unsere Umwelt in ganz anderem Ausmaß zu nutzen als alle anderen Tiere, und wir konnten uns progressiv vermehren. Durch die Fähigkeit, unser Verhalten bewusst zu ändern, können wir auch viel schneller auf äußere und selbst gemachte Störungen reagieren als die Evolution mit ihren Mitteln der Mutation und Selektion.
Entscheidend ist, dass wir diese Regelung selbst vornehmen müssen. Damit haben wir die alleinige Verantwortung für unser Handeln – wir müssen selbst herausfinden, mit welchen Veränderungen wir Ungleichgewichte schaffen, die gefährlich werden können. Und wir müssen dies viel vorausschauender tun als bisher. Erst nach zweihundert Jahren CO2-Ausstoß beginnen wir, über die globalen Folgen nachzudenken. Wäre die Wissenschaft langsamer vorangeschritten und wäre weniger Geld in entsprechende Forschung investiert worden, so hätten wir den Klimawandel vielleicht erst daran erkannt, dass große Teile der landwirtschaftlichen Nutzflächen unfruchtbar geworden wären. Ein derartiges Szenario können nur wir verhindern, indem wir uns vorab Gedanken darüber machen, wie und mit welchen Folgen wir die Erde verändern.
Wir können uns der Evolution nicht entziehen
Wir denken, dass wir über der Evolution stehen, weil wir uns nicht mehr mit den Problemen herumschlagen müssen, die die meisten Tiere an der Vermehrung hindern – beschränktes Nahrungsangebot, begrenzter Lebensraum, Winter, Krankheiten und Parasiten. Was wir dabei außer Acht lassen: Gerade unsere „Überlegenheit“ hat uns unter anderem Massenvernichtungswaffen beschert. Würden wir uns selbst auslöschen, so wäre dies nichts weiter als der Beleg, dass unsere evolutionäre Entwicklung in die Sackgasse geführt hat.
Einzelne Wege der Menschheit haben bereits ihr Ende gefunden. Es scheint, als hätten die meisten Urvölker, die von uns ausgerottet wurden, den Wettbewerb verloren. Manche Indianerstämme waren beispielsweise durch ihre Vorstellung benachteiligt, dass sie ihre Gegner nicht einfach töten, sondern gefangennehmen sollten, weil dies die höhere Ehre sei, und mussten für jeden einzelnen gefangenen Eroberer viele ihrer Krieger opfern. Diese Vorstellung trug zu ihrem Verhängnis bei. Andernfalls hätte die Geschichte vielleicht eine andere Wendung genommen, da die spanischen Eroberer zwar bessere Waffen und auch Verbündete unter den Indianerstämmen hatten, aber durch ihre sehr langen Nachschubwege benachteiligt waren.
Wir stehen nicht außerhalb der Evolution, wir befinden uns nur auf einer höheren Ebene, da wir uns nicht nur genetisch, sondern auch geistig weiterentwickeln können und die einfachen Mechanismen, die die Weiterentwicklung der Tiere regulieren, außer Kraft gesetzt haben. Wolfgang Schmidbauer schreibt: „Allerdings funktioniert die menschliche Adaption ab einem bestimmten Intelligenzniveau grundsätzlich anders als die sämtlicher Tiere. Nicht mehr die Struktur des Organismus der einzelnen Exemplare der Art passt sich an die jeweils gegebene Umwelt an, sondern die Struktur der Sozietät. Sie wird in der Form bestimmter Normen dann an die einzelnen Mitglieder – die gegenwärtigen und ihre Kinder – weitergegeben.“17 Schmidbauer nennt dies den Wandel von der biologischen zur kulturellen Adaption18. Durch uns hat die Evolution eine aktive Seite bekommen. Alle Tiere haben sich bisher zufällig, d. h. passiv verändert und gewannen oder verloren dadurch Überlebensfähigkeit, und die besser Angepassten setzten sich durch. Wir sind die ersten Lebewesen, die ihren Weg aktiv beeinflussen können. Trotzdem gelten für uns nach wie vor die Regeln der Evolution. Sind wir zu aggressiv und СКАЧАТЬ