Название: Tief eingeschneit
Автор: Louise Penny
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Ein Fall für Gamache
isbn: 9783311700852
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Der Fall Arnot hatte das zweifelsfrei bewiesen. Der Fall hatte den vor ihm sitzenden großen, nachdenklichen Mann beinahe zerstört. Brault fragte sich, ob Gamache die ganze Geschichte kannte. Wahrscheinlich nicht.
Armand Gamache sprach mit tiefer, angenehmer Stimme weiter. Brault fielen die grauen Schläfen und die zunehmende Glatze auf, die er nicht dadurch zu verbergen versuchte, dass er die verbliebenen Haare darüberkämmte. Der dunkle, ebenfalls ergrauende Schnurrbart war dicht und sorgfältig gestutzt. Sein Gesicht war von Sorgenfalten aber auch von Lachfalten durchzogen, und seine dunkelbraunen Augen blickten Brault nachdenklich über den Rand der Lesebrille hinweg an.
Wie hielt er nur stand?, fragte sich Brault. Schon bei der Polizei von Montréal gab es intern ein ständiges Hauen und Stechen, und er wusste, dass es bei der Sûreté von Québec noch schlimmer zuging. Weil mehr auf dem Spiel stand. Und doch war Gamache aufgestiegen und leitete die größte und renommierteste Abteilung der Sûreté.
Aber er würde sicher nicht weiter aufsteigen. Selbst Gamache wusste das. Allerdings schien Armand Gamache, anders als Marc Brault, der von Ehrgeiz getrieben war, mit seinem Leben zufrieden zu sein, sogar glücklich. Es hatte einmal eine Zeit gegeben, vor dem Fall Arnot, da hatte Brault den Verdacht gehegt, dass Gamache etwas einfältig sei, keine rechte Ahnung habe. Das glaubte er inzwischen nicht mehr. Jetzt wusste er, was hinter den freundlichen Augen und der ruhigen Miene steckte.
Er hatte das seltsame Gefühl, dass Gamache genau wusste, was vor sich ging, sei es in Braults Kopf oder in den komplizierten Hirnwindungen der Leute von der Sûreté.
»Ich würde vorschlagen, dass jeder von uns dem anderen die Akten seiner ungelösten Fälle übergibt und wir ein paar Tage mit deren Lektüre verbringen. Vielleicht entdecken wir ja etwas.«
Brault nahm einen Schluck Cognac und lehnte sich nachdenklich auf seinem Stuhl zurück. Die Idee war gut. Sie war allerdings auch reichlich unkonventionell und würde vielleicht Ärger nach sich ziehen, wenn jemand davon erfuhr. Er lächelte Gamache an und beugte sich vor.
»Warum? Haben Sie unterm Jahr nicht genug Arbeit? Oder haben Sie keine Lust, die Weihnachtsfeiertage mit Ihrer Familie zu verbringen?«
»Wissen Sie, wenn ich könnte, würde ich in mein Büro ziehen und von Automatenkaffee leben. Ich habe kein Privatleben, und meine Familie verachtet mich.«
»Davon habe ich schon gehört, Armand. Ich verachte Sie im Übrigen auch.«
»Und ich Sie.«
Die beiden Männer lächelten. »Ich würde mir wünschen, dass jemand so etwas für mich täte. Ganz einfach, reiner Egoismus. Wenn ich einem Mord zum Opfer fiele, würde ich hoffen, dass der Fall gelöst wird. Dass sich jemand dafür ins Zeug legt. Wie könnte ich das jemand anderem verweigern?«
So einfach war das. Und er hatte recht.
Marc Brault streckte die Hand aus und schüttelte Gamaches Pranke. »Gut, Armand, abgemacht.«
»Abgemacht, Marc. Und wenn Ihnen etwas passieren sollte, wird der Fall auch nicht ungelöst bleiben.« Das sagte er mit großer Schlichtheit, und es überraschte Brault, wie viel ihm das bedeutete.
So kam es, dass sich die beiden Männer in den letzten Jahren immer auf dem Parkplatz der Sûreté getroffen hatten, um am zweiten Weihnachtsfeiertag Akten auszutauschen, als handelte es sich um Geschenke. An jedem zweiten Weihnachtsfeiertag öffneten Armand und Reine-Marie die Kartons und suchten darin nach Mördern.
»Das ist aber komisch.« Reine-Marie ließ ihr Dossier sinken und sah, dass er sie anblickte. Sie lächelte und fuhr fort. »Da ist ein Fall von vor ein paar Tagen. Ich frage mich, wie er in den Stapel geraten ist.«
»Vorweihnachtsstress. Da muss jemandem ein Irrtum unterlaufen sein. Gib her, ich lege die Akte in den Ausgang zurück.« Er streckte seine Hand aus, aber sie hatte ihren Blick wieder auf die Blätter gesenkt und zu lesen angefangen. Nach einem Moment zog er seine Hand zurück.
»Entschuldige Armand. Ich habe gerade festgestellt, dass ich die Frau kannte.«
»Nein!« Gamache legte sein Dossier beiseite und ging zu Reine-Marie. »Was ist das für ein Fall?«
»Sie war keine Freundin oder jemand, der mir nahestand. Du kanntest sie vielleicht auch. Die Obdachlose vom Busbahnhof Berri. Die bei jedem Wetter dick eingemummelt war. Dort war jahrelang ihr Stammplatz.«
Gamache nickte. »Aber das kann noch nicht als ungelöster Fall eingestuft worden sein. Du sagst, sie ist erst vor ein paar Tagen gestorben, oder?«
»Sie ist am Zweiundzwanzigsten ermordet worden. Seltsamerweise befand sie sich nicht am Busbahnhof. Sie war auf der Rue de la Montagne, vor dem Ogilvy’s. Das ist wie weit entfernt? Zehn, fünfzehn Blocks?«
Gamache setzte sich wieder und wartete, beobachtete Reine-Marie beim Lesen, ein paar graue Strähnen fielen ihr in die Stirn. Sie war Anfang fünfzig und bezaubernder als zu der Zeit, als sie geheiratet hatten. Sie trug wenig Make-up, zufrieden mit dem Gesicht, das die Natur ihr zugedacht hatte.
Gamache konnte den ganzen Tag dasitzen und sie betrachten. Er holte sie manchmal an ihrer Arbeitsstelle, der Bibliothèque nationale, ab, wobei er bewusst zu früh kam, um sie dabei zu beobachten, wie sie historische Dokumente durchging, sich Notizen machte, der Kopf gesenkt, der Blick ernst.
Dann sah sie von ihrem Schreibtisch auf, bemerkte, dass er sie beobachtete, und auf ihrem Gesicht breitete sich ein Lächeln aus.
»Sie ist erwürgt worden.« Reine-Marie ließ die Akte sinken. »Hier steht, dass ihr Name Elle war. Kein Nachname. Das ist doch nicht zu glauben. Eine Beleidigung. Sie machen sich noch nicht einmal die Mühe, ihren richtigen Namen herauszufinden, also nennen sie die Frau einfach elle, sie.«
»Es ist nicht einfach, einen Namen herauszufinden«, sagte er.
»Was wahrscheinlich der Grund dafür ist, dass bei der Mordkommission keine Kindergartenkinder beschäftigt werden.«
Er musste lachen, als sie das sagte.
»Sie haben es nicht einmal versucht, Armand. Sieh doch selbst.« Sie hob das Dossier in die Höhe. »Es ist die dünnste Akte von allen. Sie war für sie nur eine Pennerin.«
»Soll ich es versuchen?«
»Könntest du das? Und wenn du nur ihren Namen herausfindest.«
Gamache suchte den Karton zu Elles Fall, der mit den anderen von Brault an der Wand seines Büros aufgestapelt war. Er streifte sich Handschuhe über und breitete seinen Inhalt auf dem Boden aus.
Es dauerte nicht lange, und es lagen lauter zerschlissene, verdreckte Kleidungsstücke vor ihm, und gegen den Geruch, der sich augenblicklich breitmachte, kam selbst Blauschimmelkäse nicht an.
Neben den Kleidern lagen alte Zeitungen, verknittert und schmutzig. Zur Isolation, vermutete Gamache, wegen der harten Winter in Montréal. Worte konnten vieles erreichen, das wusste er, aber sie konnten das Wetter nicht ändern. Reine-Marie gesellte sich zu ihm, gemeinsam gingen sie den Inhalt des Kartons durch.
»Sie scheint sich buchstäblich mit Wörtern umgeben zu СКАЧАТЬ