Название: Tief eingeschneit
Автор: Louise Penny
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Ein Fall für Gamache
isbn: 9783311700852
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Kaye versuchte, diesen Gedanken beiseitezudrängen, aber er kehrte immer wieder zurück. Und ein anderer Gedanke, eine andere Stimme tauchte auf, die eines Mannes, melodisch, irisch, freundlich.
»Du hättest dem Kind beistehen sollen. Warum hast du nichts unternommen?«
Es war immer dieselbe Frage und immer dieselbe Antwort. Sie hatte Angst. Hatte ihr Leben lang Angst gehabt.
Hier ist es also, das dunkle Etwas,
das dunkle Etwas, auf das du so lange gewartet hast.
Und siehe da, es ist nichts Neues.
Die Verse von Ruth Zardos Gedicht kamen ihr in den Sinn. Heute Nacht hatte das dunkle Etwas einen Namen und ein Gesicht und trug ein rosa Kleid.
Das dunkle Etwas war nicht CC, es war die Anklage in Gestalt von Crie.
Kaye ließ ihren Blick umherwandern, sie umklammerte mit beiden Händen die Decke unter ihrem Kinn, um sich warm zu halten. Ihr war seit Jahren nicht mehr richtig warm gewesen. Ihr Blick fiel auf die rote Digitalanzeige des Weckers. Drei Uhr. Und hier lag sie, in ihrem Schützengraben. Kalt und zitternd. Heute Nacht hätte sie die Gelegenheit gehabt, all die Momente der Feigheit in ihrem Leben wiedergutzumachen. Alles, was sie hätte tun müssen, war, das Kind zu verteidigen.
Kaye wusste, dass es bald so weit wäre. Bald müsste sie aus ihrem Schützengraben kriechen und sich dem, was da kam, stellen. Aber sie war noch nicht bereit. Noch nicht. Bitte.
Dieses verdammte Frauenzimmer.
Em hörte, wie die Violinklänge vertraute Orte aufsuchten. Sie umspielten den Baum, suchten nach Geschenken und lachten an dem mit Eisblumen überzogenen Fenster, das zu den im Lichterglanz erstrahlenden Bäumen auf dem Dorfanger hinaussah. Das Konzert erfüllte den ganzen Raum und einen segensreichen Moment lang konnte Em mit geschlossenen Augen so tun, als spiele nicht Yehudi Menuhin, sondern ein anderer.
Die Weihnachtsabende glichen sich stets. Aber dieser war schlimmer als die meisten. Sie hatte zu viel gehört. Zu viel gesehen.
Plötzlich wusste sie, was sie zu tun hatte.
Der Morgen des ersten Weihnachtsfeiertags zog klar und sonnig herauf, die mit dem gestrigen Schnee überzuckerten Zweige der Bäume brachten die Welt zum Glitzern. Clara öffnete die Tür ihres Windfangs, um Lucy, den Golden Retriever, hinauszulassen, und atmete tief die frische Luft ein.
Der Tag ging friedlich dahin. Peter und Clara öffneten ihre Strümpfe, die mit Rätselheften, Zeitschriften, Süßigkeiten und Orangen gefüllt waren. Aus Peters Strumpf quollen Cashewkerne, und die Gummibärchen aus dem von Clara hielten nicht lange vor. Bei Kaffee und Pancakes zum Frühstück öffneten sie ihre größeren Geschenke. Peter war entzückt über seine Armani-Uhr und legte sie gleich um, wobei er den Ärmel seines Frottebademantels weit über seinen Ellbogen schob, damit er sie besser bewundern konnte.
Dann kramte er mit großem Trara unter dem Baum herum und tat so, als finde er das Geschenk für sie nicht mehr, bis er schließlich mit hochrotem Kopf wieder auftauchte.
Er reichte ihr etwas in Rentiergeschenkpapier gewickeltes Rundes.
»Bevor du es auspackst, möchte ich dir etwas sagen.« Er wurde noch ein wenig röter. »Ich weiß, wie sehr dich diese Sache mit Fortin und CC verletzt hat.« Sie wollte protestieren, aber er bedeutete ihr zu schweigen. »Ich weiß auch von Gott.« Er fühlte sich unglaublich dumm, als er das sagte. »Ich meine, du hast mir erzählt, dass du Gott auf der Straße begegnet bist, obwohl du wusstest, dass ich es nicht glauben würde. Ich wollte dir nur sagen, dass ich es zu schätzen weiß, dass du mir davon erzählt und darauf vertraut hast, dass ich dich nicht auslachen würde.«
»Aber das hast du doch getan.«
»Gut, aber nicht sehr. Jedenfalls wollte ich dir sagen, dass ich darüber nachgedacht habe, und du hast recht, ich glaube nicht, dass Gott eine Obdachlose …«
»Was denkst du denn, wer oder was Gott ist?«
Er wollte ihr nur ein Geschenk überreichen, und sie – sie löcherte ihn mit Fragen nach Gott.
»Du weißt, was ich glaube, Clara. Ich glaube an Menschen.«
Sie verstummte. Sie wusste, dass er nicht an Gott glaubte, und das war natürlich in Ordnung. Das war selbstverständlich ganz allein seine Sache. Aber sie wusste auch, dass er nicht wirklich an Menschen glaubte. Zumindest dachte er nicht, dass sie gut, freundlich und wunderbar waren. Vielleicht hatte er das einmal getan, aber nach dem, was mit Jane passiert war, sicher nicht mehr.
Jane war ermordet worden, und dabei war auch in Peter etwas gestorben.
Nein, sosehr sie ihren Mann auch liebte, sie musste sich eingestehen, dass das Einzige, woran er glaubte, er selbst war.
»Das stimmt nicht«, sagte er und setzte sich neben sie auf das Sofa. »Ich weiß genau, was du denkst. Ich glaube an dich.«
Clara blickte in sein ernstes, schönes Morrow-Gesicht und küsste es.
»CC und Fortin sind Idioten. Ich habe nie einen Hehl daraus gemacht, dass ich deine Arbeiten nicht verstehe, sie vielleicht niemals verstehen werde, aber ich weiß, dass du eine großartige Künstlerin bist. Ich weiß es hier.«
Er berührte seine Brust, und Clara glaubte ihm. Vielleicht drang sie endlich zu ihm durch. Vielleicht wurde er auch nur besser darin, ihr zu sagen, was sie hören wollte. Beides war ihr recht.
»Pack dein Geschenk aus.«
Clara riss ungeduldig das Papier auf. Peter konnte kaum zusehen. Er fing die durch die Luft fliegenden Fetzen auf und strich sie glatt.
Es war eine Kugel. Was wenig überraschend war. Überraschend war dagegen ihre Schönheit. Sie schien in ihren Händen zu leuchten. Sie war mit einem schlichten Bild bemalt. Drei Bäume, von Schnee bedeckt. Darunter stand ein einziges Wort, Noël. Bei all seiner Schlichtheit war das Bild weder grob noch naiv gemalt. Es war von einem Stil, wie ihn Clara noch nie gesehen hatte. Eine leichte Eleganz. Eine sich ihrer selbst gewisse Schönheit.
Clara hielt sie gegen das Licht. Wie konnte eine bemalte Kugel so sehr leuchten? Dann sah sie näher hin. Und lächelte. Sie blickte zu Peter, der sie erwartungsvoll beobachtete. »Die Farbe ist überhaupt nicht außen. Sie ist ganz aus Glas. Die Farbe ist innen. Kaum zu glauben.«
»Gefällt sie dir?«, fragte er leise.
»Sie ist wunderbar. Wie du. Danke, Peter.« Sie umarmte ihn, ohne die Kugel wegzulegen. »Es muss ein Weihnachtsschmuck sein. Glaubst du, es ist ein Bild von Three Pines? Die drei Bäume darauf sehen genau aus wie die Kiefern auf unserem Dorfanger. Aber ich denke mal, drei Nadelbäume, die zusammenstehen, sehen immer so aus. Ich finde sie wunderschön, Peter. Es ist das schönste Geschenk, das es gibt. Und ich werde auch nicht fragen, woher du es hast.«
Dafür war er ihr dankbar.
Um elf Uhr war die Kastanienfüllung im Truthahn und der Truthahn im Ofen, er erfüllte das Haus mit noch mehr wunderbaren weihnachtlichen Düften. Peter und Clara beschlossen, einen Spaziergang zum Bistro zu machen, und begegneten auf dem Weg einigen Nachbarn. Bei den meisten brauchten sie einen Moment, um sie zu erkennen, weil sie СКАЧАТЬ