Название: Seelische Erkrankungen bei Menschen mit Behinderung
Автор: Walter J. Dahlhaus
Издательство: Bookwire
Жанр: Сделай Сам
Серия: aethera
isbn: 9783825162009
isbn:
reflexive Distanz
So wird es immer wieder die Frage sein, ob ich mich wirklich dem anderen nähere oder ob ich in einer Interpretation, einem Vorurteil, befangen bin. Kritische Distanz zu mir, reflexive Distanz, ist da erforderlich.
eigene Erlebens- und Sehfähigkeit
In eindrucksvoller Weise hat der Psychiater und Philosoph Karl Jaspers den Zusammenhang dieser beiden Blickrichtungen »von innen« und »von außen« 1965 dargestellt: »Das Eigentümlichste, das der Psychopathologe [hier ersetzt durch: »der / die Heilpädagoge/in« bzw. »Sozialtherapeut/in«, d. V.] erkennt, erwächst ihm im Umgang mit Menschen. Was er hier erfährt, ist abhängig davon, wie er in der Situation sich dem Menschen gibt und wie er therapeutisch mitwirkt an dem Geschehen, in dem er zugleich sich selbst und den anderen erhellt. Er vollzieht nicht nur ein indifferentes Wahrnehmen, wie beim Ablesen eines Maßes, sondern das ergreifende Verstehen im Erblicken der Seele. Der Psychopathologe [»der / die Heilpädagoge/in« … d. V.] ist abhängig von seiner Erlebens- und Sehfähigkeit, ihrer Weite, ihrer Offenheit und Fülle. Es ist ein großer Unterschied zwischen den Menschen, die blind trotz offener Augen durch die Welt der Kranken gehen, und der Entschiedenheit klaren Wahrnehmens aus einer Sensibilität der Teilnahme. Das Miterzittern der eigenen Seele mit den Ereignissen im anderen fordert dann vom Forscher [von »dem / der Heilpädagogen/in … d. V.] das denkende Vergegenständlichen solcher Erfahrung. Ergriffenheit ist noch keine Erkenntnis, sondern Quelle der Anschauungen, die für die Erkenntnis das unerlässliche Material bringen. Kühle und Ergriffenheit gehören zusammen und sind nicht gegeneinander auszuspielen. Kühle Beobachtung allein sieht nichts Wesentliches. Nur beides in Wechselwirkung kann zu Erkenntnis führen. Der Psychopathologe [»der / die Heilpädagoge/in bzw. der / die Sozialtherapeut/in«, d. V.], welcher wirklich sieht, ist eine vibrierende Seele, die ständig das Erfahrene bewältigt, in dem sie es in rationale Fassung bringt.«39
Diesen Zusammenklang – den jeweiligen Blick von außen und von innen – möchte ich bei den unterschiedlichen Phänomenen und Krankheitsbildern versuchen, im Wissen, dass dies immer nur eine Annäherung sein kann.
Erweiterung des Blickwinkels
Ergänzen möchte ich dies mit »Reflexionen«. Damit meine ich ein Einordnen der jeweiligen Bilder in einen medizinischen, neurobiologischen und auch gesellschaftlichen Kontext. Dies auch im Sinne einer »Erweiterung« des Blickwinkels in einen anthroposophisch-menschenkundlichen Zugang.
All das möchte dann hinführen zur Therapie, also zu spezifischen heilpädagogisch-sozialtherapeutischen Maßnahmen, angemessenen Strukturen, erweiterten Therapien oder auch medikamentösen Maßnahmen.
Das Wort »Therapie« meint von der Bedeutung des griechischen Wortes her: »dienen«. Das verlangt von den angesprochenen Maßnahmen, dass sie dem Betroffenen konkrete Unterstützung sein können. Es liegt im Wesen von psychiatrischen Erkrankungen, dass die hilfreiche Unterstützung Betroffener oft auch Hilfe für Begleiter bedeutet.
Beispiele von Entwicklungen und Verläufen sollen helfen, das Geschilderte zu konkretisieren und zu illustrieren.
bildhafte Darstellung für Betroffene
Als ich zum wiederholten Male in einer Einrichtung zur Mitarbeiterfortbildung war, stellte sich unvermittelt ein Bewohner vor mich hin und sagte: »Sie haben mit den Mitarbeitern über Autismus-Spektrum-Störungen gesprochen. Warum nicht mit uns? Wir sind doch die Betroffenen!« Dies leuchtete mir unmittelbar ein, und ich erweiterte dahingehend mein Fortbildungsangebot. So schließt sich hier in ausgewählten Kapiteln der Versuch an, die Inhalte in bildhafter Weise auch den eigentlich Betroffenen zu vermitteln. Es liegt im Wesen der Sache, dass dies immer nur beispielhaft sein kann. Die jeweilige Vermittlung des Geschehens, das Übersetzen in die individuellen kognitiven und emotionalen Auffassungsmöglichkeiten der Betroffenen kann nur immer wieder neu formuliert werden.
Herausforderndes Verhalten bringt auch die Mitarbeiter an Grenzen. An ihre eigenen Grenzen, an die Grenzen der Strukturen und der Teams. Dies gilt es zu achten, und dem widmet sich auch das Kapitel über die Selbstfürsorge.
unsere Haltung als Zugang zum anderen
Eingebettet sollen diese Schilderungen in das eigentlich Entscheidende sein, das wir den Betroffenen entgegenbringen möchten – unsere Haltung. Dahinter steht die Prämisse, dass unsere Haltung – unser inneres, authentisches Stehen vor dem anderen – einen eigenen und unmittelbar wirksamen Zugang zum anderen darstellen kann.
Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)
der Begriff »Trauma«
Der Begriff »Trauma« kommt aus dem Griechischen und bedeutet »Wunde«. Er wird von jeher in der Medizin gebraucht, um eine erhebliche Verletzung, wie durch einen starken Schlag oder Stoß gegen einen Körperteil, zu bezeichnen. In der Psychologie und Psychiatrie beschreiben wir mit diesem Begriff eine starke seelische Erschütterung.
Der Begriff der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) oder auch Traumafolgestörung bezeichnet eine umfassende und vielschichtige Symptomatik, die durch ein solches seelisches Trauma ausgelöst wird und in der Folge das Erleben und Verhalten von betroffenen Menschen in einer ausgeprägten Weise beeinflusst.
Immer deutlicher wird durch ein gewachsenes Bewusstsein hinsichtlich möglicher Traumatisierungen, wie viele Menschen davon betroffen sind. Im Nachhinein kann es tief erstaunen, wie lange die oft schweren Folgen einer Traumatisierung von der Medizin wie der Pädagogik nicht hinreichend erkannt und gewürdigt wurden.
»natürliche Traumaheilung«
In aller Kürze vorangestellt: Auch ein schweres und massiv herausforderndes Geschehen oder Ereignis muss nicht zu einer Traumafolgestörung (PTBS) führen. Solange ein Mensch in der Lage ist, sich genügend zu schützen und in Sicherheit zu bringen, oder solange er in der Lage ist, sich hinreichend zu wehren, muss das Erlebte oder Erlittene nicht in eine Folgeschädigung münden. Auch gibt es – der Möglichkeit nach wie bei jeder Krankheit – prinzipiell auch einen »natürlichen Traumaverlauf« und eine »natürliche Traumaheilung«.
Die Ärztin und bedeutende Traumaforscherin Luise Reddemann formulierte es einmal so: »Nicht alles Belastende ist ein Trauma. Unter einer traumatischen Erfahrung versteht man, dass die Situation überwältigend ist und dazu führt, dass man sich extrem ohnmächtig und hilflos fühlt. Außerdem erlebt man Gefühle von Panik, Todesangst, Ekel.«40
»Konzept der vier F«
In einfachsten Worten ist die Voraussetzung für die Ausbildung einer Traumafolgestörung in dem »Konzept der vier F« zusammengefasst: Menschen wie Lebewesen kämpfen generell, wenn sie belastet, herausgefordert oder bedrängt werden. Oder СКАЧАТЬ