Название: Seelische Erkrankungen bei Menschen mit Behinderung
Автор: Walter J. Dahlhaus
Издательство: Bookwire
Жанр: Сделай Сам
Серия: aethera
isbn: 9783825162009
isbn:
Eine anthroposophisch orientierte Psychiatrie stellt die seelischen Fähigkeiten – insbesondere die Bereiche des Denkens, der Emotionen sowie des Antriebs – stark unter den Aspekt der Leibes- bzw. Organtätigkeit. Rudolf Steiner formulierte dies einmal folgendermaßen: »Geisteswissenschaft braucht nicht davor zurückzuschrecken, […] zu zeigen, wie die sogenannte Geistes- oder Seelenkrankheit immer zusammenhängt mit irgendetwas im menschlichen Leibe.«26 Dieses »Irgendetwas« konkretisiert sich insbesondere in der differenzierten Beschreibung der funktionellen Tätigkeiten von Herz, Lunge, Leber und Niere.
seelenwirksamer Leib
Gemäß Rudolf Steiners medizinischer Menschenkunde kann eine seelische Erkrankung nicht alleine als Gehirnkrankheit gesehen werden. Vielfach wird hier der Begriff des »Spiegels« hinzugezogen: Der gesamte Leib wird als »seelenwirksam« gesehen – bewusst wird das Geschehen durch das Gehirnorgan. Eine anthroposophisch orientierte Psychiatrie sucht in Erscheinungsbild wie Therapie diese funktionellen Organprozesse auf, gemäß einer sogenannten »Psychologie der Organe« (siehe auch das Kapitel über Epilepsie, Seite 345 ff.).27
Zusammenfassung
gewissenhaft erstellte Diagnose
Ein Mensch mit Unterstützungsbedarf hat das Recht auf eine zutreffende und umfassend geprüfte Diagnose unter Beachtung der genannten Diagnoseschritte. Er hat das Recht, dass auf diese gewissenhaft erstellte Diagnose eine für ihn hilfreiche Therapie aufgebaut wird. Und er hat das Recht darauf, dass er nicht auf diese Diagnose reduziert wird, sondern dass gerade die hinreichende Einschätzung einer Symptomatik und die entsprechende therapeutische Behandlung eine Wesensbegegnung ermöglichen.
schicksalhafter Aspekt
Fragen wie: »Warum diese Erkrankung?«, »Warum diese Erkrankung jetzt?« und »Warum habe ich diese Erkrankung?« werden wesentlich, sie führen zum Wesen des anderen und können den schicksalhaften Aspekt einer Erkrankung zu erhellen versuchen. Auch wenn sie der Betreffende nicht selber stellen kann, wir als Begleiter können es für ihn tun.
So kann die Diagnosefindung vom ganz Konkreten ausgehen, dieses berücksichtigen und klären – und letztlich immer weiter und immer tiefer hin zur Persönlichkeit des anvertrauten Menschen führen.
Fähigkeiten und Ressourcen aufsuchen
Der tiefste diagnostische Blick auf einen Menschen wird der achtsame Blick sein: ein Blick, der sich nicht auf Defizite stützt, sondern Fähigkeiten und Ressourcen aufsucht, der sich auf das richtet, was im anderen werden will. Ein Blick, der ohne Kommentar, vor allem ohne jegliches Urteil ist. Ein Blick, der unverstellt sehen will, was ist. Ein aufmerksamer und liebevoller Blick birgt Erkenntniskraft in sich. »Liebevoll« meint hier: ein Blick, der einen Menschen nicht auf Gewordenes reduziert, sondern der offen ist für das Potenzial eines Menschen, für das, was er werden kann und will – und damit für das, was er eigentlich ist.28
Die folgenden Zitate mögen die Tiefe und das Spannungsfeld des hier Gemeinten verdeutlichen: »Der Grund der Liebe aber, in der das Unbedingte gegründet ist, ist eins mit dem Willen zur eigentlichen Wirklichkeit. Was ich liebe, von dem will ich, dass es sei. Und was eigentlich ist, das kann ich nicht erblicken, ohne es zu lieben.«29 (Karl Jaspers)
»Gerechtigkeit. Beständig zu der Annahme bereit sein, dass ein anderer etwas anderes ist als das, was man in ihm liest, wenn er zugegen ist […]. Oder vielmehr in ihm lesen, dass er gewiss etwas anderes, vielleicht etwas völlig anderes ist als das, was man in ihm liest.«30 (Simone Weil)
wahrhaftiges Interesse
»Wo man einem anderen Menschen mit innerem Anteil, mit tiefem Verständnis, mit wahrhaftigem Interesse für sein innerstes Seelenleben, für sein ganzes Sichdarleben, entgegentritt, in dem Augenblick wird man […] im gewöhnlichen Leben hellsichtig. Es ist dem Menschen eben nur zugeteilt im gewöhnlichen Leben, in diesem einen Falle hellsichtig zu werden; für die anderen Fälle hat er sich erst auf methodische Weise, auf mühsame Weise die entsprechenden Fähigkeiten anzueignen.«31 (Rudolf Steiner)
Dies ist ein herausforderndes Wort – es soll keine Überheblichkeit hervorrufen, eher Bescheidenheit. Aber auch ein Vertrauen auf ein eigenes Empfinden, und es knüpft an dem Begriff der Intuition an, der im Heilpädagogischen Kurs entwickelt wird.
Angst
Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.
Friedrich Hölderlin
unterschiedliche Erscheinungsformen
Das Phänomen der Angst umfasst sehr unterschiedliche Aspekte und Erscheinungsformen und begleitet die Menschheit und den einzelnen Menschen immer und überall. Angst weist ein weites Spektrum auf: Sie kann hilfreich sein, indem wir durch sie auf Gefahren aufmerksam werden, aber sie kann auch ein Leben schwer überschatten.
Seelische Erkrankungen sind ohne Angst nicht zu denken. Angst kann sowohl Hintergrund wie Folge einer seelischen Erkrankung sein. Aus diesem Grund leitet sie die Darstellung seelischer Erkrankungen ein.
Gegenkräfte der Angst
An den Anfang dieses Kapitels möchte ich ein Zitat des Psychoanalytikers Fritz Riemann stellen, in dem er den Bogen von der Bedeutung der Angst für die persönliche Entwicklung jedes einzelnen Menschen über die menschheitsgeschichtliche Dimension hin zur Angst als Erkrankung spannt: »Angst gehört unvermeidlich zu unserem Leben. In immer neuen Abwandlungen begleitet sie uns von der Geburt bis zum Tode. Die Geschichte der Menschheit lässt immer neue Versuche erkennen, Angst zu bewältigen, zu vermindern, zu überwinden oder zu binden. Es bleibt wohl eine unserer Illusionen, zu glauben, ein Leben ohne Angst leben zu können; sie gehört zu unserer Existenz und ist eine Spiegelung unserer Abhängigkeit und des Wissens um unsere Sterblichkeit. Wir können nur versuchen, Gegenkräfte gegen sie zu entwickeln: Mut, Vertrauen, Erkenntnis, Macht, Hoffnung, Demut, Glaube und Liebe. Diese können uns helfen, Angst anzunehmen, uns mit ihr auseinanderzusetzen […].
Wenn wir Angst einmal »ohne Angst« betrachten, bekommen wir den Eindruck, dass sie einen Doppelaspekt hat: Einerseits kann sie uns aktiv machen, andererseits kann sie uns lähmen. Angst ist immer ein Signal und eine Warnung bei Gefahren, und sie enthält gleichzeitig einen Aufforderungscharakter, nämlich den Impuls, sie zu überwinden. Das Annehmen und das Meistern der Angst bedeutet einen Entwicklungsschritt, lässt uns ein Stück reifen. Das Ausweichen vor ihr und vor der Auseinandersetzung mit ihr lässt uns dagegen stagnieren; es hemmt unsere Weiterentwicklung und lässt uns dort kindlich bleiben, wo wir die Angstschranke nicht überwinden.
Begleiter von Reifungsschritten
Neues, Unbekanntes macht Angst
Angst tritt immer dort auf, wo wir uns in einer Situation befinden, der wir nicht oder noch nicht gewachsen sind. СКАЧАТЬ