Название: Seelische Erkrankungen bei Menschen mit Behinderung
Автор: Walter J. Dahlhaus
Издательство: Bookwire
Жанр: Сделай Сам
Серия: aethera
isbn: 9783825162009
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Professionalisierung
Es ist zutiefst wichtig, in Heilpädagogik wie Sozialtherapie eine Professionalisierung sowohl im Erkennen der Symptomatik wie im Wissen um Therapiemöglichkeiten zu entwickeln. Dies umso mehr, da Menschen mit Intelligenzminderung in ihren kognitiven Bewältigungsmöglichkeiten oft überfordert sind, zusätzlich aber auch bei eingeschränkten Kommunikationsmöglichkeiten nur bedingt in der Lage sind, eigenes erlittenes Leid hinreichend auszudrücken. Vor allem aber, weil Traumatisierungen so häufig geschehen!
Blick von außen – Begegnungen mit einem traumatisierten Menschen
scheinbare Widersprüchlichkeit
Die Begegnung mit einem traumatisierten Menschen ist oft in einer starken Weise herausfordernd. Es gibt kein einheitliches Bild, die möglichen Erscheinungsformen können höchst unterschiedlich sein; und sie können sich im Verlauf in Form und Intensität erheblich verändern. Manches an diesem Erscheinungsbild kann auf den Begleiter auch bizarr oder verwirrend wirken. Die scheinbare Widersprüchlichkeit in den oft stark wechselnden Stimmungen und Verhaltensweisen verleitet Begleiter immer wieder zur Verkennung der bestehenden Not.
Blick für dissoziative Zustände
Wichtig ist es, einen Blick für sogenannte dissoziative Zustände zu entwickeln. In diesen Zuständen reagiert der andere oft nicht oder nur eingeschränkt. Er entgleitet dem Betreuer, kann dann wie unnahbar und unerreichbar wirken, eigentümlich »abgezogen«; im Erscheinungsbild kann das fatalerweise als »überheblich« oder »desinteressiert« verkannt werden. Vielleicht wird der andere in diesem Moment eingeholt von Erlittenem, ist wieder in diesem Geschehen festgehalten, also in einem sogenannten Flashback (siehe Seite 91) befangen. Ein Mensch in diesem Zustand wird dann extrem dissoziiert wirken, zusätzlich wie erstarrt, oft mit ausgeprägt kalten Extremitäten, in den Augen tiefe Angst.
Oder er ist Intrusionen ausgesetzt, intensiven Sinneseindrücken, die ihn jäh überwältigen, ebenfalls von der jeweiligen Umgebung abziehen und »entrückt« erscheinen lassen (siehe auch Seite 92).
plötzliche Verhaltensänderungen
Auch können wir plötzliche und unmittelbare Veränderungen im Gebaren und Verhalten des anderen erleben, wie aus dem Nichts aufschießende aggressive Zustände oder ein nicht einfühlbarer Rückzug, eine abrupt entstehende Abwehr – ein befremdliches Verhalten. Wir können Vermeidungsverhalten beobachten, eine große Übervorsichtigkeit.
Vielleicht können wir mit der Zeit Bedingungen erkennen, die solchen Veränderungen vorausgehen, zum Beispiel die Anwesenheit einer bestimmten Person, der Übergang zur Nacht oder Ähnliches. Doch oft bleibt es uns – zunächst – ein Rätsel, was die jeweilige Situation auslöst.
Die Stimmung mag sich verändern und umschlagen von Aggression in eine tiefe Verstimmtheit, Dysphorie, oder auch in eine (scheinbare) Gefühlsabflachung. Eine Schreckhaftigkeit, oft eine Hoffnungslosigkeit mag uns begegnen und immer und unentwegt die Neigung zu einer großen Angst.
Abgrenzung von anderen Erkrankungen
Die unterschiedlichen Bilder können eine erhebliche Dimension annehmen und sehr an eine Psychose erinnern, sie können dem Bild einer Depression ähneln oder auch schwer abgrenzbar sein von der Symptomatik einer emotional instabilen Persönlichkeitsstörung (Borderline-Persönlichkeits-Störung).
Weiterhin können Formen der Verweigerung auftreten, auch ungewöhnliche Kontaktgestaltungen wie ein Anklammern oder umgekehrt ein heftiges abweisendes Verhalten. Regressive Phänomene, die an ein ausgeprägt kindliches Verhalten erinnern, treten auf.
Es können sich anhaltende Ess- und Schlafstörungen zeigen, aber auch körperliche, somatische Phänomene wie nicht einfühlbare und nicht abklärbare Kopfschmerzen, Erbrechen oder Durchfall. Zittern, Schwitzen und Herzrasen treten auf; wir können eine erhöhte Krankheitsanfälligkeit wahrnehmen, eine taktile Über- und Unterempfindlichkeit, ein oft intensives oder auch abgeschwächtes Schmerzempfinden. Oder der andere zeigt uns Nacken- und Körperschmerzen unklarer Genese.
Im Sozialen ergeben sich Bindungsstörungen wie der Abbruch von scheinbar sicher gewähnten Beziehungen, Probleme mit der Affektregulation oder Angst vor fremden Personen, oft auch ein Bedürfnis nach intensiver Rückversicherung, verbunden mit Trennungsängsten oder wiederum auch Kontaktvermeidung.
vielschichtiges Bild
Immer ist es ein sehr vielschichtiges Bild, wobei nur einzelne der geschilderten Symptome auftreten können oder auch mehrere Symptome sich gelegentlich abwechseln und auch in Stärke und Intensität in unterschiedlicher Weise auftreten.
Wir erleben den anderen in seinem Verhalten und Gebaren, in seinen Handlungen und Äußerungen. Gleichzeitig aber erleben wir ihn auch innerlich, wir fühlen mit ihm, oder anders ausgedrückt: Der andere spiegelt sich in unserer Seele. Hier liegt der wesentliche Schlüssel zum Erkennen des Zustandes des anderen – als Grundlage und unabdingbare Voraussetzung unseres adäquaten Verhaltens. Unser wichtigstes diagnostisches wie therapeutisches »Werkzeug« in der Begleitung von Menschen, insbesondere in der Begleitung von Menschen mit herausforderndem Verhalten, ist also unsere eigene Seele. Die aufmerksame Selbstbeobachtung kann eine ganz wesentliche Erweiterung unserer Wahrnehmung und damit ein wichtiges Korrektiv darstellen. Hier können wir die tiefe Not nachempfinden, in der ein traumatisierter Mensch steht.
Ursachen einer Traumatisierung
Typ-1- und Typ-2-Trauma
Es gibt sehr vielfältige Ursachen einer Traumatisierung. Traumatisierungen können auf ein einmaliges Erlebnis zurückgehen. Wir sprechen dann von einem »Typ-1-Trauma«. Die Entwicklung eines Menschen kann aber auch durch wiederholte Traumatisierungen über lange Jahre geprägt sein. Dies umfasst innerfamiliäre Traumatisierungen (zum Beispiel wiederholten sexuellen Missbrauch oder anhaltende Gewalterfahrungen), aber auch Formen der schweren Verwahrlosung oder Ähnliches. Wir sprechen dann von einem »Typ-2-Trauma«.
Gerade die lang anhaltenden Traumatisierungen in einem Umfeld, das eigentlich Schutz und Sicherheit gewähren sollte (vor allem die Familie, aber auch Institutionen wie Schule oder Heim), wirken sich besonders schwer aus, da hier zusätzlich zur seelischen und gegebenenfalls körperlichen Verletzung der Verlust an Vertrauen entscheidend hinzutritt.
Mitbedingt wird das Ausmaß einer Traumafolgestörung durch die Vorerfahrungen eines Menschen. Es ist ein erheblicher Unterschied, ob ein Mensch schon früh in seiner Entwicklung beeinträchtigt wurde oder ob er eine sogenannte Resilienz entwickeln durfte.
Resilienz
»Resilienz« bedeutet eine seelische Widerstandsfähigkeit, СКАЧАТЬ