Verwundert wende ich mich der Stimme zu, die hinter mir erklingt. Ihre Besitzerin muss direkt hinter mir aus dem Wald gekommen sein, sieht jedoch vollkommen anders aus wie eine Wanderin.
»Du hast recht. Wenn ich mir dich jedoch so anschaue, bin ich mir nicht so sicher, ob sie mir überhaupt ein Zimmer geben werden!«, erwidere ich und mustere etwas neidisch die gepflegte Erscheinung der jungen Frau, die schräg hinter mir steht. Ihre blonden Haare fallen glänzend über ihre Schultern, um ihre schlanke Figur schmiegt sich ein zauberhaftes Sommerkleid und ihre Füße stecken in Sandalen mit einer filigranen Lederschnürung. Im Gegensatz zu ihr muss ich mit meinem struppigen, braunen Pferdeschwanz und den klobigen Wanderstiefeln wie eine Pennerin aussehen!
»Drei Tage in der Lodge wirken da Wunder, sage ich dir!«, grinst sie und hakt mich unter, als müsse sie nicht befürchten, dass meine staubige Kleidung ihren sauberen Look ruinieren könnte. »Glaub mir, die sind Gäste wie uns gewohnt!«
Ungläubig mustere ich sie von der Seite, während sie mich mit federnden Schritten weiter den Weg entlang und die Treppe hinaufführt. »Du wanderst den PCT?« Irgendwie kann ich mir kaum vorstellen, dass ihre schmalen Schultern einen schweren Rucksack wie den meinen auch nur eine Meile weit tragen könnten. Als lese sie meine Gedanken und sei gerade wegen ihrer zierlichen Konstitution stolz darauf, die Herausforderungen des Trails zu bestehen, reckt sie ihr Kinn nach vorne und strafft ihre Schultern. »Jep – Thru-Hikerin! Wenn ich es auch diesmal bis nach Kanada schaffe, dann zum zweiten Mal!« Als wolle sie mir ihre Entschlossenheit, es zu schaffen, auch gleich demonstrieren, stößt sie energisch die Tür zur Eingangslobby der Lodge auf.
»Verdammt!« Diese Frau hat echt Power! Ich gebe einen anerkennenden Pfiff durch die Zähne von mir, der junge Mann hinter dem Tresen lächelt uns wissend entgegen. »Ein Zimmer mit Badewanne?« Als Antwort kann ich nur verträumt seufzen. »Sie nimmt es«, entscheidet – wie heißt sie eigentlich? – für mich und nimmt dem Portier sogar den Zimmerschlüssel ab. »Ich bin Kim«, stelle ich mich vor, während sie mich zum Treppenhaus begleitet, in dessen Richtung der Portier mich schickt. »Kennedy«, antwortet sie. Spontan entscheide ich, dass ich Kennedy und ihre quirlige Art mag. »Hast du Lust, mit mir zu Abend zu essen und mir ein bisschen mehr darüber zu berichten, was einen dazu treibt, drei Bundesstaaten zu Fuß zu durchqueren?«
Kennedy überreicht mir den Zimmerschlüssel und streckt mir die Hand entgegen. »Aber nur, wenn du mir erzählst, warum du diesen Trip machst!« Ich muss grinsen. Dass Hiker das so betreiben, wusste ich inzwischen ja schon. Dass diese neue Bekanntschaft jedoch deutlich unkomplizierter und weniger aufreibend als die letzte für mich werden wird, macht den Auftakt zu einem entspannten Aufenthalt in der Lodge perfekt. Vielleicht schafft es Kennedy sogar, mich ein wenig von meinen kreisenden Gedanken abzulenken. Freudig schlage ich in ihre Hand ein und ein warmer Strom zieht durch meine Handfläche und meinen Arm hinauf. Völlig fasziniert betrachte ich Kennedys erfreutes Lächeln. Diese Frau strahlt eine Sorglosigkeit und eine Energie aus … Plötzlich fühle ich mich viel wohler, als springe ein Funke davon auf mich über. »Bis später also …« Ich zwinge mich dazu, ihre Finger loszulassen und mache mich auf, mein Zimmer zu suchen. Ich freue mich tierisch auf die Badewanne, die meine dank Kennedy wiedererweckten Lebensgeister hoffentlich noch ein wenig mehr pushen wird.
Ein durch und durch entspannendes Schaumbad und ein kurzes Nickerchen später trete ich vor der Rezeption nervös von einem Fuß auf den anderen. Irgendwie kratzt es mich total auf, wie schnell Fremde auf diesem Trip zu Freunden werden. Jedenfalls fühlt es sich mit Kennedy so an, als befänden wir uns auf dem direkten Weg dorthin, und auch mit George und Gerald war es so. Na ja, hauptsächlich mit George. Unwillkürlich muss ich schmunzeln, als ich daran denke, wie er mir bei meinem Aufbruch mit einem melodramatischen Seufzen seine Handynummer zugesteckt hat. »Wenn du jemanden zum Reden brauchst, ruf mich jederzeit an. Und jetzt geh und finde dein Glück, Süße, und wenn du es gefunden hast, ruf mich ebenfalls an!« – Ich vermute stark, dass er vor Neugierde umkommen würde, würde er nicht erfahren, wie meine Geschichte letzten Endes ausgeht.
»Was ist so lustig?« Plötzlich steht Kennedy vor mir und blitzt mich erwartungsvoll aus ihren ausdrucksstarken, nussbraunen Augen an. Irgendetwas ballt sich in meiner Magengrube zusammen. Kaum zu glauben, aber George fehlt mir irgendwie. »Ach, ich habe nur gerade an zwei Kerle gedacht, denen ich vor ein paar Tagen begegnet bin«, wehre ich ab. Keine Ahnung, was ich ihr tatsächlich über mich erzählen soll.
»Zwei Kerle und ein verträumtes Seufzen …? Könnte eine hörenswerte Geschichte sein!« Kennedy wackelt anzüglich mit den Augenbrauen und hakt mich wie vorhin schon unter, um mich zum Speisebereich der Lodge zu führen. Die Aussicht, beim Essen vielleicht auch eine schmutzige Geschichte serviert zu bekommen, scheint sie keineswegs zu stören. Sofort wird sie mir noch sympathischer und mir kommt es so vor, dass wir total auf einer Wellenlänge liegen – oder besser gesagt: Ich fühle mich ihr seltsam nah.
Während des Essens vertieft sich dieser Eindruck. Immer wieder schaut Kennedy mir tief in die Augen, während sie mir davon erzählt, dass sie süchtig danach sei, ihre Grenzen auszuloten. Angefangen hat es mit Bungee-Jumping, doch das wurde ihr schnell zu langweilig. Sie braucht es, sich bis zur körperlichen Erschöpfung auszuschinden und sich zu beweisen, wozu sie imstande ist. Als sie ihre Erzählung schließlich beendet, zuckt sie gleichgültig mit den Schultern. »Darum werde ich diesen Trip wohl immer wieder machen und langfristig daran arbeiten, die Triple Crown of Hiking zu bewältigen: den Appalachian, den PCT und Continental Divide Trail.«
Ich muss lachen – das kann schließlich nur ein Scherz sein, oder? Für Kennedy scheint es jedoch völlig normal zu sein, sich gleich alle drei ganz großen Langstreckenwege der USA vorzuknöpfen. »Die Triple Crown of Hiking, bist du denn verrückt?«, hake ich nach und schüttle ungläubig den Kopf. Kennedy grinst versonnen und schaut mir tief in die Augen. »Manchmal bin ich ziemlich verrückt, aber man lebt ja bekanntlich nur einmal und sollte mitnehmen, was das Leben einem zu bieten hat. Aber jetzt zu dir – was treibt dich auf den Trail?«
»Eine etwas kompliziertere Geschichte«, antworte ich und seufze leise. Noch ein paar Tage, dann werde ich die Grenze zwischen Oregon und Washington erreichen – spätestens dort sollte ich aussteigen, ehe der Trail anstrengender wird und definitiv meine Kräfte übersteigt. So wie es aussieht, ohne etwas über mich und meine Motivationen und weiteren Ziele herausgefunden zu haben, das mich richtig voranbringen wird.
»Erzähl mir alles!«, fordert Kennedy mich auf und lehnt sich bequem auf ihrem Stuhl zurück. Während ich das beste Rumpsteak mit Bratkartoffeln, die ich je gegessen habe, in mich hineinschaufle, sprudelt es plötzlich nur so aus mir heraus. Verrückt, wo ich doch wieder kaum etwas hinunterbekommen habe, seit ich George und Gerald hinter mir gelassen habe. Doch mit Kennedy fühle ich mich wohl – nein besser: Ich fühle mich berauscht in ihrer Gegenwart! Deshalb erzähle ich ihr auch alles – wirklich alles, angefangen mit Dave und mir bis hin zu dem fantastischen Sex mit Gerald, der mich in die prekäre Lage gebracht hat, mich fragen zu müssen, ob ich Dave wohl je wieder gegenübertreten kann. Bei dem Punkt angekommen, spüre ich schon wieder dieses Brennen in meiner Brust. Die ganze Zeit über, während ich erzähle, ruht Kennedys Blick auf mir. Derweil ich über meine Abneigung gegenüber Insekten und meine Vorliebe für Feuchttücher scherze, lacht sie leise. Als ich ihr Gerald und seine Qualitäten als Liebhaber beschreibe, stöhnt sie leise und hängt regelrecht an meinen Lippen. Die Frau geht mit mir mit – nicht nur mit meiner Erzählung, sondern sie taucht regelrecht in meine Emotionen ein und ihre offenen Reaktionen darauf gehen mir durch und durch. Irgendwie habe ich das Gefühl, endlich verstanden zu werden, auch wenn ich mich selbst immer noch nicht ganz verstehe. Plötzlich habe ich das Gefühl, die Lösung bereits zum Greifen nah vor mir zu haben, und als Kennedy gespannt an ihrer Lippe knabbert, während ich ihr davon berichte, wie ich die letzten drei Tage verbracht habe, durchzuckt es mich wie ein Blitz. Kennedy …
»… Und so bin ich СКАЧАТЬ