Weihnachts-Sammelband: Über 250 Romane, Erzählungen & Gedichte für die Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe). О. Генри
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      In einem Südzimmer eines der kleineren Hotels in Bordighera liegt auf dem Marmorbalkon im schönsten Sonnenschein, in einem Korbstuhl, ein junger, blasser Mann, sorgfältig in Tücher und Decken eingehüllt. Neben ihm sitzt eine freundliche, behäbige Gestalt, seine Mutter, an einem Tisch und schreibt emsig Briefe. Der junge Mann hat sein Buch sinken lassen.

      »Bald fertig, mater? und weiß der pater nun, was wir treiben, und hast du ihm gewiß von Professor Schwarzen erzählt? Das freut ihn doch am meisten. Da lacht er wie ein Schneekönig, da kommen ihm die alten Tübinger Erinnerungen.«

      »So gut ich konnte, Albrecht, aber all die Weisheit, die ihr miteinander redet, und die Welträtsel, die ihr löst und nicht löst, das konnte ich ihm nicht alles mitteilen.«

      »Daß er mir so viel Zeit opfert; er will doch schreiben, hat seine Bücherkiste hier, – aus der ich ja auch lebe,« und er hob sein Buch in die Höhe. »Hör einmal, Mutter, den Spitteler:

      Ich habe da in meinem Herzgänsespiel

       Noch zwei Weltvoll Liebe zu viel,

       Weiß nicht, wohin damit ...«

      Die mütterliche Frau lacht auf: »Albrecht, kein Wunder, daß dir das gefällt ... o da kommt der Herr Professor.«

      Der Herr Professor, dem man überall unschwer Stand und Nationalität angesehen hätte, tritt ein. Unter den schärfsten Brillengläsern glänzten hellblaue Augen, sein graublonder Bart wuchs ihm, wo und wie er wollte, sein Überzieher war in den Taschen weitläuftig geworden – von hineingesteckten Broschüren. Kurz, das heimatlichste Bild an der fremden Meeresküste. Jetzt schwenkte er seinen Hut, seine Stirne war ein wahrer Palast für all die Gedanken, die darin wohnten.

      »Ei, Frau Mama und Herr Sohn, wie geht's! Die schöne Sonne! Und Herr Albrecht liest Spitteler.«

      »Mein Sohn freute sich eben daran.«

      »Heute müssen wir Korsika auftauchen sehen, es ist heute ein ganz besonderer Tag!« sagte der Professor und deutete mit seinem Stocke nach der schimmernden Meeresfläche.

      »Herr Professor, erzählen Sie, was gab es diesmal am Capo? Keine himmelblauen Meereskornblumen?«

      Der Herr Professor setzte sich behaglich in den ihm angebotenen Korbsessel. »Es freut mich, daß Sie es mir sofort ansehen, daß mir heute etwas ganz Außerordentliches geschehen ist. Was ich gesehen habe« – der Herr Professor schwenkte seine Hand wie auf dem Katheder gegen seine Zuhörer. – »Ein besonderer Tag heute und verdient ein rotes Kreuz im Kalender. Ich gehe das Capo entlang: blaue hüpfende Wellen, die letzten am Horizont mit weißen Kronen. Und alles voll Menschen, Herr Albrecht, old England for ever – Damen und wieder Damen, kurze, dünne, lange, und Kinder, sehr hübsche Kinder. Aber im ganzen doch die Menschheit etwas zu reichlich vertreten – mir sind ja immer die einzelnen Exemplare lieber.«

      Dabei nickte er mit einem so guten Ausdruck dem blassen Jüngling zu, daß dem ein feuchtes Aufleuchten in die Augen kam. –

      »Nun also, gegen Norden, wo die Steine größer werden und die Fischernetze zum Trocknen liegen, ist die Menschheit dünner gesät. Und ich bedachte bei mir, welch außerordentliches Rätsel dieser Strand der nachgrabenden Nachwelt wohl bieten würde, wenn wir durch eine jener plötzlichen unterirdischen Erdeinstürze verschüttet würden.«

      »O Herr Professor, wir wollen nicht hoffen.«

      Der Professor wehrt mit heiterer Ruhe die Wahrscheinlichkeit eines solchen plötzlichen Eingreifens der unterirdischen Mächte ab. –

      »Herr Albrecht, bedenken Sie, die Engländervilla an der Marina und die Wohnungen in der Altstadt, der Englishstore und die Bäckerei am Kirchplatz. – Die Herren Kollegen werden behaupten, daß sie auf mindestens drei Kulturstufen gestoßen seien – daß das alles friedlich nebeneinander nur wenige Meter entfernt gleichzeitig bestanden haben soll, darauf werden sie nicht kommen.«

      »Herr Professor, Mutter bekommt ganz dunkle Augen ... und wenn heute nacht das Meer wieder so donnert! Erzählen Sie uns, was Sie am Strande gesehen.«

      »Doch nicht Anzeichen nahen Bebens?« »Alles so fest wie möglich, meine Gnädigste. Nein, ich sah etwas Wunderbares. Schon vorher war's, als lenkten freundliche Genien meinen Weg. Ich stolperte nicht über die ungleichen Steine, ich verfing mich in kein Netz, und wie ich nun um einen Felsblock mich herumschwinge, da öffnet sich eine Felswand, das Meer wird nach Osten frei. – Da sitzt auf einem gelben Steine, zum Hintergrund das Meer, vor sich das Meer, mit feinen ewig unruhigen Wellen, wer meinen Sie? – Ich reibe mir die Augen, ich zwicke mich in den Arm, ich schließe die Augen und zähle auf drei und mache sie wieder auf, – das Bild bleibt da!

      Da saß still und ruhig, in einem weißen Gewand, Iphigenie, Goethes Iphigenie, nicht die Griechin. In einem weichen, weißen Gewand, notieren Sie, Herr Albrecht, nicht in einem Kleide. – Sie sah hinaus aufs Meer, auf die eine Hand ein wenig gestützt, mit blassem Goldhaar, von dem der Meerwind eine Strähne hinauswehte. Sie trug sogar Sandalen oder etwas Ähnliches. – Ich stand da und dachte: Darum habt ihr mich hergeführt, ihr Kleinen von den Meinen! Ich stand und sah und dachte an meinen Herrn Albrecht, und wie sehr ich ihm ein paar Augen voll gegönnt hätte. Ich sah nur die schöne Kopfform und den wundervoll hingegebenen jungen Körper, in jeder Linie beseelt und wie vorgeneigt in unsäglicher Sehnsucht. Feuerbachs Iphigenie liebe ich sehr, diese war jünger und jungfräulicher und ebenso königlich!«

      Des jungen Mannes Augen strahlten.

      »Und ihr Gesicht haben Sie nicht gesehen?«

      »Nein, ich wagte mich nicht weiter, ich wollte ihre Andacht nicht stören. Und dann: Ich bin kein Zergliederer meiner Freuden. Wenn sie nun das Antlitz gewendet hätte und das hätte nun irgend einen kleinlichen Zug gehabt – oder das ist's nicht einmal: Man sagt auch nicht zu dem Engel, der auf Rembrandts Bild den Propheten berührt: bitte, wenden Sie sich nach rechts! nein, man genießt ihn so, wie ihn der Maler hingestellt. Ich ging ganz leise und bescheiden zurück.« »O Herr Professor, gehen Sie doch bald wieder ans Capo und erzählen Sie doch gewiß dem Herrn Doktor nichts von der Iphigenie, er sagt sonst nur, es sei eine der vielen überzähligen Damen gewesen, die ein Rendezvous erwartete.«

      »Geographisch unmöglich, sie sah nicht rechts, nicht links, und anlegen, das gibt es dort nicht einmal für Fischerboote. Und das ist Herrn Spittelers Herzgänsespiel. Freuen Sie sich nur recht daran.«

      »Und wenn Sie die Iphigenie wiedersehen –«

      »Das ist mir höchst unwahrscheinlich. Ich kann mir diese Gestalt mit dem besten Willen nicht unter den Britinnen an der Table d'hôte vorstellen, den Oberkellner mit der Weinkarte hinter sich, – ein unvollziehbarer Gedanke! Sie wird ins Land der Träume verschwunden sein – ein Mondnachen kam und holte sie ab, oder wie Sie das sonst bedichten wollen, mein lieber junger Freund ...« – – –

      Aber nun kommen Regentage, und Iphigenie zu sehen wird unmöglich sein. Da, eines Tages kommt der Herr Professor wieder.

      »Heureka, Herr Albrecht! Sie sehen es mir ja an. Die Iphigenie!«

      »Oh, wenn ihr Gesicht nicht so schön war wie ihre Haltung, so sagen Sie es mir nicht. Mutter ist ausgegangen, es drücken sie ihre anderen Jungen, die Weihnachten ohne sie zubringen müssen, und sie sucht jetzt schon jedem ein Pflaster auf seine Wunden. Und die Iphigenie?«

      »Herr Albrecht, ich sollte Ihnen doch die portugiesischen Liebeslieder СКАЧАТЬ