Rosmarie legte das Blatt auf den Tisch und starrte vor sich hin. –
»Rosmarie ... unüberlegt, trotzig, zornig, wild in Haß und Liebe, das alles – aber gemein, grausam, feig ...! Die Arme in ihrem Elend daliegen lassen und mit ihr Spott treiben. Nein, so sind die Braunecker nicht. Die Familiensimpelei ist nicht mein Fall, aber so weit muß man sein eigenes Blut kennen. Was antwortest du, Rosmarie?«
»Mein Vater hat recht, wenn er sagt, er habe zwei Kinder verloren ...«
»Rosmarie, du gibst es zu! Du solltest dich so von deinem Zorn haben hinreißen lassen, um – nein ... Warum denn? Du warst ja als Kind eine richtige Traumliese, und eigensinnig wie – nun wie ein alter Braunecker Eckschädel, aber dieses niederträchtige ... Rosmarie, laß mich doch nicht ganz die Seele aus dem Leibe reden! Mein armer Bruder! Sie haben dich doch nicht so entsetzlich verdummt, daß du nicht wüßtest, um was alles es sich besonders für deinen Vater handelt!«
Rosmarie hob ihre schweren, starren, müden Augen: »Doch, ich weiß ... alles!«
»Rosmarie, was soll ich deinem Vater schreiben? Verteidige dich doch! Wenn deine Mutter in irgend etwas übertrieben hat, so wehr dich! Daß sie alles frei erfunden! – Nein, so angesichts des Todes, das ist unmöglich. Erzähle mir, wie es war!«
»Das hilft ja doch nichts mehr, Tante Helen. Sie werden es mir nicht glauben ... Du hast gelesen, wie mein Vater über mich denkt ...«
»Das ist geschrieben im ersten Schmerz und Schrecken, Rosmarie. Das Blut kühlt auch wieder ab. Dein Vater, so höflich er ist, kann seinen Zorn haben, so gut wie einer von uns! So wehr dich doch, Rosmarie! Was du verlierst ...«
»Was ich verloren habe, weiß ich ... Meine Ehre habe ich verloren. Wie kann ich mich verteidigen, wenn Mama und mein Vater das von mir glauben wollen. Kann ich beweisen, daß ich jene Türe nicht geöffnet habe, daß ich Mama nicht vorher mit meinen Augen und Haaren erschrecken wollte! Ihr müßtet mir euer Vertrauen schenken! Ich will kein geschenktes Vertrauen, das man jederzeit wieder zurücknehmen kann, wenn noch einmal die falsche Türe aufspränge ...«
Die Tante warf sich ganz erschöpft in einen Fauteuil und jammerte: »Gott, ich bin keine Katastrophen mehr gewöhnt! Seit ich ganz aus dem alten Brauneck gezogen ... Ich kann sie nicht mehr ertragen, sie bekommen mir nicht, die Katastrophen ...«
»Laß mich in mein Zimmer gehen, Tante Helen, ich bitte dich, ich bin müde, müde, – ich ...«
»Soviel habe ich jetzt doch herausgebracht, Rosmarie, daß du die Sache bestreitest. Ich muß ein Wort an meinen armen Bruder schreiben, heute nacht noch. – Nur noch eins, Rosmarie ... Dein Verhältnis mit deiner Mutter, – ich weiß, es war nie sehr warm, von beiden Seiten nicht; ihr seid Gegensätze ...«
»Ich hasse sie, hasse, hasse, mein Herz ist ganz ausgebrannt vom Haß! Und Haß tut weh. Ich habe gehaßt in jener Nacht ...« Rosmarie verbarg ihr Gesicht in ihre Hände... »Oh, mein armer Garten! Giftblumen, wilde rote, Dorngeschlinge, Brennesseln. Sie haben mich so weit gebracht, daß er es trägt. Nein, wie darf ich das sagen. Es ist mein Garten! Und wenn Vater da hineinsieht. – Er glaubt, daß ich ehrlos sei, ehrlos ...«
Prinzessin Helen hat sich erhoben und beugt sich über Rosmarie, die wie zerbrochen über ihrem Stuhl liegt. Ihr rundliches Gesicht zuckt und sieht kläglich, fast kindlich drein in ihrem Schmerz. Endlich schüttelt sie sich zusammen; das in langen Jahren, die auch ihre verschwiegenen Schmerzen gehabt hatten, erworbene Phlegma kommt ihr zu Hilfe.
»Rosmarie, Kind, geh zu Bett. Du hast die Türe nicht aufmachen wollen, soviel habe ich doch herausgehört. Wenn es mir schon lieber wäre, du hättest alles rund und deutlich gesagt. – Fräulein Bergmann, warum hast du sie nicht geholt?«
»Ich wollte sie nicht hören lassen, was Mama sprach.«
»Waren das so schlimme Dinge – das sollte dein Vater wissen ... das ist doch ein Grund – was sagte sie denn?«
»Wie kann ich das jetzt Vater sagen? Nie kann ich das, sie sagte die schlimmen Dinge, und ich dachte sie ... Nichts davon, Tante Helen, nein.«
»Närrchen, du bist im Unglück, nicht sie!«
»Ich will es nicht sagen, nein. Ich will das doch nicht sein, wofür sie mich halten.«
»Wie du willst, Rosmarie, denn schließlich kann deine Mutter das auch bestreiten, und deine Sache wird dadurch nicht besser. Nein, vielleicht hast du recht. Nun, sagen wir, Mama sei so erregt gewesen, daß du lieber gleich nach deinem Vater gegangen wärest. O Gott, die Sache hat doch ein Loch, Rosmarie: nun, vielleicht merken sie es nicht, du kannst ja auch den Kopf verloren haben. Geh zu Bett, arme Rosmarie, heute nacht erlösen wir dich nicht mehr, ich weiß jetzt doch, was mein armer Bruder zuerst wissen muß.«
Eine Tragödie in ihrer hübschen, kleinen, molligen Villa. Prinzeß Helene sieht nicht einmal im Theater Tragödien an, wo man doch das beruhigende Gefühl haben kann, daß die Heldin, so tot sie auch daliegt, sich nachher zu einem mehr oder weniger bescheidenen Souper erhebt ... Die rundliche Dame weiß nicht ein und aus mit ihrer blassen apathischen, schweigenden Nichte. Denn auch am nächsten Tage hat Rosmarie keine weiteren Worte über die Vorgänge in jener Nacht gefunden. Warum sie an jenem Morgen ihrem Vater nicht mit dem Mitgefühl begegnet war, das sie jenem großen Schmerz doch schuldig war, darüber schweigt sie auch. Und das treibt den Stachel immer wieder in ihres Vaters Herz.
Zum großen Glücke erholt sich die Fürstin rasch, ja mit fast unerwarteter Schnelligkeit. Es ist, wie wenn ihre Natur von einem unheimlichen Druck befreit wäre. Sie geht nach Wiesbaden zur Kur und blüht dort auf wie eine Rose.
Rosmarie blüht nicht auf. Sie hat öfters die schweren Ohnmächten, die Tante Helens Entsetzen sind. –
Sie läßt einen bedeutenden Nervenarzt, der zugleich Leiter eines Sanatoriums ist, kommen, und Rosmarie wird ihm vorgeführt. Der kluge und feine Geheimrat, der so viele menschliche Nöten und Leiden kennt, steht ja bald, daß in diesem weißen, apathischen Kinde irgend eine Feder zersprungen sein muß, eine Krankheit, gegen die weder er noch andere Ärzte ein Mittel haben. Vielleicht ist ihr eine Liebe, die ihren Eltern nicht paßte, genommen worden, doch sieht sie fast zu jung und zu passiv kühl aus für eine große Leidenschaft. Und Prinzessin Helen suggeriert ihm das hilfreiche Wort: Luftveränderung. Rosmarie soll den Winter in Italien zubringen, und Prinzessin Helen will sie in langsamen Etappen dahin begleiten. Miß Granger geht ja auch mit und Lisa und Prinzeß Helens erprobte Frau Waren und der fette Diener. »Miß Granger ist eine Mehlamsel,« klagt die Brauneckerin in einem Briefe an ihren Bruder, »aber schließlich ist sie hochanständig und in einem Alter, wo der Mensch seine meisten Dummheiten gemacht zu haben pflegt. Für Rosmarie hat sie nichts Aufmunterndes, aber wer hat das? Ich habe es süß und bitter, kalt und heiß, zart und grob bei ihr versucht, sie hört alles an, und läßt man sie einen Augenblick allein, so fällt sie ganz zusammen.«
Auf der Reise lebt Rosmarie fast ein wenig auf, hie und da fliegt sogar ein rasch wieder schwindender Rosenschein über ihr Gesicht, und sie äußert einen Wunsch, was Prinzessin Helen alles sofort nach Brauneck berichtet. Es ist noch viel zu früh im Jahre, als sie an die sonnenheiße, ausgestorbene Riviera kommen, die Stechmücken leben noch alle, und die Villen und Hotels stehen СКАЧАТЬ