Also ich wollte doch nicht nur die Barrett Browning versorgen, sondern hatte auch eine Broschüre vom Kollegen Leonhardi bekommen, und nun, um die guten Fliegenden Blätter doch mit weiterem Stoff über uns neben den Schwiegermüttern zu versorgen, muß mir diese Broschüre, mit der mir so wohlbekannten, von manchen aber bestrittenen Tücke des Objekts, entgleiten. Ich schritt weiter, Elisabeth um so fester unter dem Arme haltend, je dünner mir die Gute zu werden schien. Plötzlich berührt mich jemand. Da steht die Holdselige und sagt mit der lieblichsten hohen Stimme: »Mein Herr, Sie haben dieses verloren,« und gibt mir den Gilgamesch. Wie ein kleines Schulmädchen, so freundlich und ordentlich ist sie mir nachgelaufen.«
»Und ihr Gesicht, Herr Professor?«
»Das war das Schönste von allem. Ich reiße also meinen Hut herunter, dabei muß mir nun diese Elisabeth entgleiten, und wahrhaftig, sie bückt sich, die junge Königin, und hebt sie mir auf. Und nun habe ich das Recht, wenn ich sie sehe, den Hut herunterziehen zu dürfen. Und Herr Albrecht, sind Sie nun, der Sie mich nach der Bibliothek geschickt haben, mein Wohltäter oder nicht? Aber die Geschichte ist noch nicht zu Ende. –
Nun, ich höre noch, wie die graue Dame sie wegen ihrer holden Güte in englischen Quetschlauten schilt. Die Damen gehen aus dem Garten, ich in respektvoller Entfernung hinten drein. Und nun entdecke ich in mir einen Sherlock Holmes. Ich folge ihren Spuren, nicht wie ein Jüngling, sondern wie ein Polizist. Sie verschwinden in einen Park, ich merke mir die Nummer, ich eile zu Schulte und studiere alle Fremdenlisten.«
»O Herr Professor, Sie wollten auch den Namen wissen!« »Nein, aber ein Gefühl hatte ich, als ob ich einer Gestalt aus unserer deutschen Vergangenheit nachginge. Herr Albrecht, ich erkannte sie, – die deutsche Kaiserstochter aus der Hohenstaufenzeit.«
»Aber Sie waren doch an der Griechin.«
»Herr Albrecht, ich vermisse genauere Geschichtskenntnisse. – Heirateten die Hohenstaufen nicht byzantinische Prinzessinnen, also möglicherweise griechischen Blutes? Sie ist eine Prinzessin von Brauneck und gehört einem unserer edelsten Geschlechter an. Mit den Hohenstaufen verwandt und verbunden kämpften sie mit ihnen gegen Papst und Guelfen; auf unzähligen deutschen Schlachtfeldern hat ein Brauneck geblutet. Jetzt ist die Familie in den meisten Linien ausgestorben. Sie sind jedem europäischen Herrschergeschlecht ebenbürtig. Die Iphigenie kann eine deutsche Königin werden.
Und so wenig neues Weib ist sie,« – der Herr Professor lachte hell auf, – »so wenig neues Weib, – hebt wie die Ottilie in den Wahlverwandtschaften einem Herrn das Buch vom Boden auf! Nun, genügt das nicht für einen lyrischen Erguß, Herr Albrecht? Diese Enkelin hoher Ahnen, die so bescheiden und demütig ist ... oder nicht ... Doch das müssen Sie besser wissen.«
Es ist stark zu befürchten, daß Tante Helen, wenn sie nun ihren kleinen, wohleingerichteten Staat sähe, nicht sehr zufrieden wäre! Die Déroute fängt ganz unten an, bei dem kleinen italienischen Hausmädchen, deren Familie sich jeden Tag vermehrt und an der Hintertüre gespeist wird. Der Braunecker Lakai Adolf, der dem kleinen Haushalt beigegeben ist, damit nicht ganz der männliche Schutz fehle, steht die meiste Zeit an dem Drahtzaun, der die nächste, von einer englischen Familie bewohnte Villa umgibt, und treibt Sprachstudien mit einer kleinen, hübschen englischen Nurse und läßt deren Pflegebefohlene auf den Knien reiten und spielt ihnen den angenehmen deutschen Onkel. Die Köchin ist unwirsch und schlampig und verbraucht so viel Fleisch, daß eine zehnköpfige Familie reichlich davon leben könnte. Miß Granger erklärt der Prinzessin eines Abends, daß der Arzt ihr das späte Diner verboten habe, daß sie es als große Güte ansehen würde, wenn ihr abends einige leichtere Speisen aufs Zimmer gebracht würden. Rosmarie legt es der Köchin ans Herz, ja recht leichte Sachen herauszusuchen!
Jeden Tag geht Miß Granger in ihre teas, an der Hand einen schwarzseidenen Riesenbeutel, der seltsam schwer aussieht. Da englische Damen doch nicht wie gute deutsche Hausfrauen mit dem Strickbeutel zusammen kommen, so muß der Beutel einen andern Inhalt haben. Als Rosmarie sie eines Tages schüchtern danach fragt, bekommt sie die Antwort, daß der Mensch stets ein gutes Buch bei sich haben müsse, um durch einige vorgelesene Sätze der Unterhaltung einen höheren Schwung zu verleihen. Die guten Bücher scheinen alle recht voluminös zu sein, rechte Wälzer und Tröster. Rosmarie hat nach dem Inhalt des schwarzen Beutels kein Verlangen. So geht Miß Granger denn mit ihrer Geistesnahrung bewaffnet fort und kehrt um sieben sichtlich aufgemuntert zurück, dann verschwindet sie für den Abend in ihre oberen Gemächer. Des Morgens geht sie in die englische Kirche und kehrt da eben so gedrückt und niedergeschlagen zurück, wie sie aus den teas erheitert heimkam.
Rosmarie fürchtet ihre Kirchenstimmung und macht scheue Trostversuche. Mit unerwartetem Erfolg. Miß Granger gesteht ihr, daß sie täglich flehe, ein drohendes Schicksal von ihren Angehörigen abzuwenden. Sie gibt zu verstehen, daß das Schicksal durch eine kleine pekuniäre Hilfe gebessert werden könnte. Rosmarie holt schnell aus ihrer Kassette drei deutsche Goldfüchse, die ihr Vater ihr für die eigensten Bedürfnisse gegeben. Die Rechnungen werden ja nach Brauneck geschickt und von dort aus bezahlt. Miß Granger dankt würdevoll im Namen der Angehörigen und heitert sich sichtlich auf.
Aber Miß Granger macht sehr viel mit ihren Angehörigen durch, und seltsamerweise immer des Morgens, nach ihrem Kirchgang. Die Goldfüchse werden immer weniger, und eines Tages starrt Rosmarie der blaue Samt des Bodens entgegen.
Nun ißt Rosmarie auch das Diner allein, denn Miß Granger ißt ihre Puddings und Hors d'oeuvre oben.
Rosmarie sitzt allein in ihrem feierlichen Abendkleide an dem etwas nachlässig gedeckten Tisch, die Fenster, die mit Heliotrop, Rosen und Glycinien umwachsen sind, stehen offen. Der schokoladefarbene Adolf hat eben die Schüsseln aufgedeckt und ist entlassen worden, denn nur in seiner Gesellschaft zu essen ist zu trübselig. Die Schüsseln haben meist recht fremdartigen Inhalt, – Rosmarie betrachtet sie mit einem Seufzer.
Daß man sich so hinschleppen muß, essen und trinken, damit die Tage vergehen – die Tage eines nutzlosen und entehrten Lebens. Da macht sie ein Laut aufsehen. Durch das Blättergewirre am Fenster, das nicht sehr hoch vom Erdboden entfernt ist, schiebt sich eine kleine, magere, braunschwarze Hand und klammert sich an die Fensterbrüstung: dann ein schwarzzotteliger Kopf, ein elendes Körperchen in einem groben zerschlissenen Hemd folgt nach. Mit großen, runden, schwarzen Augen sieht das kleine Menschenwesen nach den guten Dingen da auf dem Tisch und flüstert mit gutturalen, Rosmarie ganz unverständlichen Tönen immer wieder das gleiche. – Rosmarie erhebt sich, das Kind erschrickt, so daß es beinah herunterfällt. So etwas Großes und Weißes hat es wohl noch nie gesehen.
Rosmarie lächelt ihm zu und häuft Gemüse und ein Kotelette zierlich auf einen Teller, Messer und Gabel daneben und stellt alles mit einer einladenden Handbewegung auf die innere Fensterbrüstung. Die schwarzen Augen des Kerlchens leuchten, Messer und Gabel braucht er nicht, die schmutzigen Finger und die Mauszähnchen verrichten das Geschäft allein. Rosmarie versucht ihn zu bewegen, den schwebenden Sitz zu verlassen, aber wenn sie ihm zu nahe kommt, hebt er seinen Arm in Augenhöhe, wie es überall in allen Landen verprügelte Geschöpfe machen. Was hat das Kind Hunger! Wenn er sich doch hereinnehmen und ein wenig waschen ließe! Aber an sich herankommen läßt er sie nicht, und sein Kauderwelsch versteht sie nicht. Endlich ist er gesättigt und klopft sich, jedenfalls als Dankeszeichen, auf sein wohlgefülltes Bäuchlein, dann ist er ebenso blitzschnell verschwunden, wie СКАЧАТЬ