Bald werden die Abende immer herrlicher und linder, und Rosmarie möchte nur einmal den Wald in ihrem Schlaf rauschen hören. Harro hat nur darauf gewartet. In das Schlafzimmer kommen zwei Betten an.
Harros Organisationstalent bewährt sich wieder. Sein Hauptgrundsatz – so wenig wie möglich Bedienung, die wieder bedient werden muß, – triumphiert. Alle Morgen elf Uhr erscheint das Break von Thorstein mit Lisa und zwei großen Schließkörben. Der eine enthält warm eingewickelt das fertige Mittagessen, das die zu allem brauchbare Lisa vollends herrichtet, im zweiten Schließkorb ist die frische Wäsche für Mutter und Kind. Denn Rosmarie weiß nicht, daß man ein Wäschestück auch zweimal tragen und zweimal im gleichen Bettbezug schlafen kann. Um drei Uhr fährt das Break wieder ab. Lisa hat dann die Zimmer gerichtet, abgedeckt und ihren Schließkorb wieder gefüllt. Das Nachtessen ist immer kalt und einfach, und Rosmarie, der die kleine Arbeit helle Freude macht, deckt und schmückt den Tisch oben oder in der Veranda.
Den tiefsten Grund, warum Harro sich dieses Wald-, Wiesen- und Kleinkinderdasein eingerichtet hat, ahnt niemand. Er ist genötigt gewesen, zum ersten Male in seinem Leben Ferien zu machen. Ein Schwindelgefühl, ein Flimmern vor den Augen, das ihn hie und da überfällt, haben ihn überzeugt, daß er nicht ungestraft so atemlos wie in den letzten Jahren fortarbeiten darf. Namentlich das Flimmern in den Augen hat ihn erschreckt und ihm einen Augenblick eine heiße Angst eingejagt. Und wie kann er in Thorstein feiern, solang es da noch leere Wände gibt! Rosmarie weiß nichts davon. Sie freut sich kindlich über das schöne Faulenzerleben, das sich ihr Mann mit einem Male gönnt.
Und nach wenigen Tagen verliert sich auch das Flimmern, und es wird Rosmaries allerschönster Mai. Kaum zehn Schritte vom Hause stehen die weißen Maiblumen in Scharen, der Kuckuck ruft unermüdlich aus dem Walde, und tausendfältiges Leben geigt, zirpt und schrillt und brummt über der Wiese. Rosmarie sitzt auf der Veranda im leichtesten Gewande mit hängenden Haaren, und wenn sie nicht so vergnügt wäre und der kleine Heinz Friedrich so gar kein Schmerzenreich, so könnte sie eine schöne Genovefa abgeben. Das Kind schlummert oder gibt sich dem allerschönsten Genusse an der Mutter Brust hin, oder es schaut mit blanken Augen in die wunderbare, grüne, leicht bewegte Welt über ihm. Harro in einem grauleinenen Rock und kurzer Hose und gar keiner Krawatte liegt längelang im Grase und betrachtet durch das Kastaniendach den Himmel, wie er in tiefblauen Ecken hindurchsieht, und ist sehr philosophisch aufgelegt dabei. Das Kind hat viele Namen, – der Genießer, der Sybarit, der Tyrann, das Würmlein, und wenn Harro seine Rose ärgern will, das arme Kind!
Abends kommt der Fürst angeritten, allein ohne Reitknecht, und duldet nicht, daß Harro sein Pferd besorge, sondern bringt es selbst in den Stall. Dann wird der Tyrann zu Bett gebracht, und es ist das allererste Erwachen des Geistes in dem Kinde, daß dabei ein gewisser Ritus vollzogen wird, den es sich gemerkt haben muß, und den es zu verlangen scheint.
Dies erklärt Harro seinem Schwiegervater in den gelehrtesten Worten, die er auftreiben kann. Daß dies Verlangen eine Reihe der wichtigsten geistigen Funktionen, Gedächtnis und Willenskraft, voraussetze. Während Harro doziert, dreht und wendet er den kleinen Körper in den gewandtesten Händen, behandelt ihn mit Puder und Schwamm:
»Jetzt äußert er deutlich Unlustgefühle, Vater, und nun ist dies beendet, und er stellt, mit Mühe, wie du siehst, seine Gemütslage auf die kommenden Freuden ein. Und nun der Ritus.«
Harro legt seinen Kopf auf das Wickelkissen, und sofort geht ein Lachen auf in dem kleinen Gesicht. Die Händchen und Füßchen tasten und schlagen, und endlich gelingt's. Er hat eine von Harros krausen Locken erhascht, und nun kreischt er auf. Zugleich bearbeiten die winzigen, einwärts gedrehten Sohlen Vaters Gesicht. Und jeden Tag findet er ein neues Tönchen, um seiner Freude Ausdruck zu geben. Die junge Mutter steht daneben und legt ihre weiße Hand auf Harros Schulter. Und Harro doziert ruhig weiter über Dämmerzustände, Bewußtseinswellen und so weiter, der Fürst hört andachtsvoll zu und vergißt ganz, daß er Harro darauf aufmerksam machen wollte, daß ein Mann als Kindermädchen doch eine etwas lächerliche Figur mache. Dann bekommt der Genüßling sein letztes Mahl, Rosmarie sitzt in der Veranda, wenn es noch warm genug ist, ihr Kind an der Brust, ihr holdes Haupt herabgeneigt, ganz verträumt. Harro und der Vater gehen am Rain auf und ab und rauchen, und drüben, über dem letzten Wiesenzipfel, erhebt ein Reh den feinen Kopf. So wächst und gedeiht Heinz Friedrich im Waldeshauch und an blühender Sommerwiese. Und erlebt das erste Abenteuer, als eines Tages ein vorwitziger kleiner Frosch auf seine Decke hüpft. Er stößt ein helles Kreischen aus, und als der Frosch wieder forthüpft, muß er weinen. Große blanke Tränen, die ersten seines Lebens.
Der Juni wurde dann voll schwerer Gewitter. Der Fürst brachte manche ängstliche Nacht zu, wenn er an sein Liebesnest dachte im tiefen Walde. Zuweilen litt es ihn nicht mehr, und er bestieg bei dem schlimmsten Unwetter sein Pferd. Ganz allein sprengte er hinaus in jede Sturmesgewalt, ritt einmal die Buchenallee entlang, wo grelle Blitze ihm die seidengrauen Wände des Hauses zeigten, und wenn sich das Unwetter gelegt hatte, ritt er wieder nach Hause. »Er bespricht das Wetter,« sagen die Bauern, wenn sie seine Hufe durch die Nacht hören, und sie nehmen ihm seine Rehböcke weniger übel.
Und Rosmarie flüstert halb im Traum: »Es ist mir, als ob der Vater käme.«
Harro meint: »Den wilden Jäger hörst du, Rose. Seine Meute bellt, Käuze fliegen mit, Katzen schreien, und heute heulen die armen Seelen. Hussah – hör, wie er über die Wipfel hinknallt.«
»O Harro, ich fürchte mich, höre doch auf.«
»Schäfchen, wer tut dir etwas, wenn du deinen Harro neben dir hast!«– – –
Die Fürstin hat den Sommer über in Brauneck wie eine Gefangene gelebt. Die alljährliche Wiesbadener Reise hatte ihr der Fürst glattweg verweigert. Und ihr ganzes Wesen fieberte doch nach Befreiung von diesem Braunecker Druck und nach dem süßen Gifte, das sie nun gekostet hat und dessen Feuer ihr durch die Adern lief. Und sie stieß auf eisernen Widerstand. Umsonst hatte sie alle möglichen leidenden Zustände beschworen. Aber sie blieb nicht konsequent dabei. Das Hingestrecktsein und Herumwanken ward ihr bald verleidet, und sie mußte sich in einem tollen Ritt austoben. Dann flaute des Fürsten Mitleid sofort wieder ab.
Einmal war sie nach der Römerwiese geritten, um Rosmarie in ihrem Magddienst zu genießen. Rosmarie war allein und saß in einem Kleide von lichtblauer Sommerseide und einem Margueritenkranz auf dem Haupte unter der Kastanie neben dem schlafenden Heinz und las. Sie riß sich sofort den Kranz herunter, als sie ihre Mutter sah, und begrüßte sie scheu. Als diese sich über das Kind neigen wollte, schob sie ihren Arm darüber und sagte: »Er liebt es nicht, wenn man ihm im Schlafe zusieht.«
Dabei war der Fürstin Auge auf den Ring gefallen. Die Fürstin sagte mit leisem Beben: »Wie kommt es, daß du meinen Ring trägst?«
»Vater bat mich, ihn zu nehmen, er sagte, du wolltest ihn nicht.«
»Darum gehört er mir doch, und ich brauche nur den Stein anders fassen zu lassen, so ist er mir recht. Ich will den Stein. Gib mir den Ring!«
Die Fürstin ist ganz allein mit ihrer Tochter, so ist es nicht nötig, daß sie СКАЧАТЬ