Название: Sewastopol
Автор: Лев Толстой
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 4064066112196
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III
Er ging zuerst nach dem Pavillon, neben dem die Musikanten standen, denen statt der Pulte andere Soldaten desselben Regiments die Noten hielten und umblätterten, und um die, mehr als Zuschauer, denn als Zuhörer, Schreiber, Junker und Wärterinnen mit Kindern einen Kreis gebildet hatten. Rings um den Pavillon standen, saßen und gingen meistenteils Seeleute, Adjutanten und Offiziere in weißen Handschuhen. In der großen Allee des Boulevards spazierten Offiziere aller Art und Frauen aller Art, hin und wieder in Hüten, meist aber in Kopftüchern (es gab auch welche ohne Tücher und ohne Hüte), aber nicht eine von ihnen war alt, ja, merkwürdig, alle waren jung. Unten in den schattigen, duftenden Alleen weißer Akazien gingen und saßen abgesonderte Gruppen.
Niemand war sonderlich erfreut, auf dem Boulevard dem Stabskapitän Michajlow zu begegnen, ausgenommen vielleicht Kapitän Obshogow und Kapitän Ssuslikow von seinem Regiment, die ihm herzlich die Hand schüttelten, aber der erstere war in Kamelhaar-Beinkleidern, hatte keine Handschuhe an, einen abgetragenen Mantel und ein so rotes, schweißtriefendes Gesicht, und der zweite schrie so laut und ausgelassen, daß es eine Schande war, mit ihnen zu gehen, besonders vor den Offizieren in weißen Handschuhen (von diesen begrüßte Stabskapitän Michajlow den einen Adjutanten, einen zweiten Stabsoffizier hätte er begrüßen können, denn er war mit ihm zweimal bei einem gemeinsamen Bekannten zusammengetroffen). Im übrigen aber, welches Vergnügen hätte es für ihn sein können, mit diesen Herren Obshogow und Ssuslikow spazieren zu gehen, da er auch so sechsmal am Tage mit ihnen zusammentraf und ihnen die Hand drückte? Nicht darum war er zur Musik gekommen.
Er wäre gern zu dem Adjutanten herangetreten, den er begrüßt hatte, und hätte gern mit diesen Herren geplaudert, keineswegs etwa, damit die Kapitäne Obshogow und Ssuslikow und der Leutnant Paschtezki und die anderen sähen, daß er mit ihnen spricht, sondern einfach, weil sie nette Menschen waren und zudem alle Neuigkeiten wissen und sie erzählt hätten.
Warum aber scheut sich der Stabskapitän Michajlow, warum entschließt er sich nicht, zu ihnen heranzutreten? »Wie, wenn sie mich auf einmal nicht wiedergrüßen – denkt er – oder wenn sie mich grüßen und in ihrem Gespräch fortfahren, als ob ich nicht da wäre, oder sich ganz von mir entfernen und ich allein dort bleibe unter den Aristokraten?« Das Wort Aristokraten (im Sinne eines höheren, auserwählten Kreises, gleichviel in welchem Stande) hat bei uns in Rußland, wo es, wie man glauben müßte, gar nicht existieren sollte, seit einiger Zeit eine große Popularität bekommen und ist in alle Gegenden und in alle Schichten der Gesellschaft eingedrungen, wo nur der Dünkel eingedrungen ist (und in welche Zeit und in welche Verhältnisse dringt diese klägliche Sucht nicht ein?): in die Kreise der Kaufleute, der Beamten, der Schreiber, der Offiziere, in Ssaratow, in Mamadysch, in Winniza – überall, wo es Menschen giebt. Und da es in der belagerten Stadt Sewastopol viel Menschen giebt, giebt es auch viel Dünkel, d. h. auch viel Aristokraten, obgleich jede Minute der Tod schwebt über dem Haupte jedes Aristokraten und Nicht-Aristokraten.
Für den Kapitän Obshogow ist der Stabskapitän Michajlow ein Aristokrat, für den Stabskapitän Michajlow ist der Adjutant Kalugin ein Aristokrat, weil er Adjutant ist und mit dem andern Adjutanten auf du und du steht. Für den Adjutanten Kalugin ist Graf Norden ein Aristokrat, weil er Flügeladjutant ist.
Dünkel, Dünkel, Dünkel überall, selbst am Rande des Grabes und unter Menschen, die bereit sind, aus einer edlen Überzeugung in den Tod zu gehen, überall Dünkel. Er ist also wohl ein charakteristischer Zug und eine besondere Krankheit unseres Zeitalters. Warum hat man unter den Menschen vergangener Zeit nichts gehört von dieser Leidenschaft, wie von den Pocken oder der Cholera? Warum giebt es in unserer Zeit nur drei Arten von Menschen: Solche, die die Quelle des Dünkels als eine notwendigerweise existierende, darum berechtigte Thatsache hinnehmen und sich ihr freiwillig unterwerfen; eine zweite, die sie wie einen unheilvollen, aber unüberwindlichen Umstand hinnehmen, und eine dritte, die unbewußt sklavisch unter ihrem Einflusse handeln? Warum haben Homer und Shakespeare von Liebe, von Ruhm, von Leiden gesprochen, und das Schrifttum unseres Jahrhunderts ist nichts als eine endlose Erzählung von Snobs und Dünkel?
Der Stabskapitän ging zweimal an der Gruppe seiner Aristokraten vorüber, beim drittenmal überwand er sich und trat zu ihnen heran. Diese Gruppe bildeten vier Offiziere: der Adjutant Kalugin, Michajlows Bekannter, der Adjutant Fürst Galzin, der sogar für Kalugin selbst ein wenig Aristokrat war, der Oberst Neferdow, einer von den sogenannten Hundertzweiundzwanzig Bürgerlichen (Verabschiedete, die für diesen Feldzug wieder in den Dienst getreten waren) und der Rittmeister Praßkuchin, auch einer von den Hundertzweiundzwanzig. Zu Michajlows Glück war Kalugin in vortrefflicher Stimmung (der General hatte soeben erst mit ihm höchst vertraulich gesprochen, und Fürst Galzin, der eben aus Petersburg gekommen, war bei ihm abgestiegen), er hielt es nicht für erniedrigend, dem Stabskapitän Michajlow die Hand zu reichen, was Praßkuchin jedoch sich nicht entschließen konnte zu thun, obgleich er sehr häufig mit Michajlow auf der Bastion zusammengetroffen war, mehr als einmal seinen Wein und Schnaps getrunken hatte und ihm sogar vom Préférence her zwölf und einen halben Rubel schuldete. Da er den Fürsten Galzin noch nicht näher kannte, wollte er vor ihm seine Bekanntschaft mit einem einfachen Stabskapitän der Infanterie nicht zeigen. Er grüßte ihn mit einem leichten Kopfnicken.
Wie, Kapitän, sagte Kalugin, wann geht's wieder auf die Bastion? ... Erinnern Sie sich, wie wir uns auf der Schwarzow-Redoute trafen, es ging heiß her?
Ja, es ging heiß her, sagte Michajlow, indem er sich erinnerte, wie er in jener Nacht im Laufgraben der Bastion Kalugin getroffen, der kühn und mutig mit dem Säbel klirrend, vorwärts ging.
Eigentlich sollte ich erst morgen gehen, da aber bei uns ein Offizier krank ist, fuhr Michajlow fort, so ...
Er wollte sagen, daß die Reihe nicht an ihm sei; da aber der Kommandeur der achten Kompagnie krank und in der Kompagnie nur der Fähnrich übrig sei, hätte er es für seine Pflicht gehalten, sich für die Stelle des Leutnants Nepschißezki zu melden und ginge daher heut auf die Bastion. Kalugin ließ ihn nicht aussprechen.
Ich fühle, daß es dieser Tage etwas geben wird, sagte er zum Fürsten Galzin.
Wie, wird es heut nichts geben? fragte schüchtern Michajlow, indem er bald Kalugin, bald Galzin ansah.
Niemand antwortete ihm. Fürst Galzin runzelte nur eigentümlich die Stirn, ließ seinen Blick an seiner Mütze vorbeischweifen und sagte nach einer kurzen Pause:
Ein prächtiges Mädchen, die in dem roten Tuche. Kennen Sie sie nicht, Kapitän?
Nicht weit von meiner Wohnung, die Tochter eines Matrosen, antwortete der Stabskapitän.
Gehen wir, sehen wir sie uns an.
Und Fürst Galzin nahm auf der einen Seite Kalugin, auf der anderen – den Stabskapitän unter den Arm; er war im voraus überzeugt, daß dies dem letzteren ein großes Vergnügen bereiten müsse, was in der That zutreffend war.
Der Stabskapitän war abergläubisch und hielt es für eine große Sünde, sich vor einem Kampfe mit Weibern abzugeben; aber in diesem Falle spielte er den Schwerenöter, was ihm Fürst Galzin und Kalugin offenbar nicht glaubten, und was das Mädchen in dem roten Tuch außerordentlich verwunderte, da sie öfter bemerkt hatte, СКАЧАТЬ