Название: Die bedeutendsten Staatsmänner
Автор: Isabella Ackerl
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
Серия: marixwissen
isbn: 9783843802093
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1964 wurde Brandt als Nachfolger des verstorbenen Erich Ollenhauer zum Parteivorsitzenden der SPD und gleichzeitig zum Kanzlerkandidaten der Partei bestellt, schon 1958 war er Mitglied des Parteivorstandes geworden. Als solches nahm er auch entscheidenden Einfluss auf die Formulierung des neuen Parteiprogramms, das 1959 in Bad Godesberg beschlossen wurde. Es brachte eine völlige Neupositionierung der SPD als reformfähige und pragmatische Volkspartei.
In den Wahlkämpfen der folgenden Jahre (1965 und 1969) versuchte Brandt vergeblich, für die SPD einen Wahlsieg einzufahren und damit deutscher Bundeskanzler zu werden. Er führte seine Wahlkämpfe nach dem Vorbild John F. Kennedys, seinen politischen Widerpart Ludwig Erhard versuchte er durch außenpolitische Initiativen aus dem Feld zu schlagen.
In das Kabinett von Kurt-Georg Kiesinger, einer Koalition von CDU/CSU und SPD, trat Brandt – trotz anfänglichen Zögerns – im Dezember 1966 als Vizekanzler und Außenminister ein. Für diesen Schritt wurde er von der studentischen Protestbewegung angegriffen, die ihm vorwarf, die Ideale seiner Jugend zu verraten. Obwohl sein eigener Sohn Peter zu diesen Studentengruppen gehörte, vermochte Brandt zu ihnen keinen Kontakt zu finden. Mit Kurt-Georg Kiesinger kam es immer wieder zu Spannungen, weil dieser Brandts Ostpolitik nicht mittragen wollte. Auch Brandts Vorgänger im Auswärtigen Amt, der CDU-Minister Gerhard Schröder, hatte an der Hallstein-Doktrin festgehalten, die in den Nachkriegsjahren einen wichtigen Faktor darstellte, als Deutschland seine internationale Stellung erst festigen musste. Der vom Staatssekretär im Auswärtigen Amt Walter Hallstein geprägte Grundsatz, dass nur die Bundesrepublik Deutschland den Alleinvertretungsanspruch für Deutschland wahrnehmen könne, war nach Brandts Ansicht ein zu enges Korsett, um in der Ostpolitik Änderungen erzielen zu können.
Nach den Wahlen von 1969 bildete Brandt eine Koalitionsregierung mit der FDP (Freie Demokraten). Zum ersten Mal nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges war ein Sozialdemokrat deutscher Bundeskanzler geworden, und Brandt nahm die Zügel sofort fest in die Hand. Als eine der ersten Maßnahmen seiner Administration setzte er eine Aufwertung der deutschen Mark durch und unterzeichnete den Atomsperrvertrag. Er ließ keinen Zweifel daran, wohin der Weg gehen sollte. Mit griffigen Sätzen wie »Wir stehen nicht am Ende unserer Demokratie, wir fangen erst an« gewann er die Gunst der deutschen Wähler.
Schon in seiner Regierungserklärung setzte er wichtige Akzente in der Deutschlandpolitik und in der Ostpolitik, als er von »zwei Staaten in Deutschland« sprach. Ab 1970 konzentrierte er sich völlig auf die Außenpolitik, die eine Verbesserung des Verhältnisses zur kommunistischen Welt anstrebte. So akzeptierte er bei einem Besuch in Polen die Oder-Neiße-Grenze als polnische Westgrenze. Im Rahmen des Staatsbesuches in Polen kam es auch zum legendären Kniefall Brandts am Mahnmal für die Opfer des Nationalsozialismus im ehemaligen Warschauer Ghetto. Diese Geste Brandts wurde vielfach gelobt, fand aber auch zahlreiche Kritiker, wie auch seine Akzeptanz für den Status von Westberlin sehr kontrovers bewertet wurde. Die internationale Anerkennung für seine Versöhnungspolitik mit Osteuropa fand ihr sichtbares Zeichen in der Verleihung des Friedensnobelpreises an Willy Brandt im Jahr 1971. Er war der erste Deutsche nach 1945, der mit diesem Friedenspreis ausgezeichnet wurde.
Eher behutsam ging er das Problem DDR an, um nicht das Misstrauen des Westens auf den Plan zu rufen. Er traf sich 1970 in Erfurt mit dem DDR-Ministerpräsidenten Willy Stoph, zwei Jahre später wurde der deutsch-deutsche Grundlagenvertrag unterzeichnet. Bei den Neuwahlen des deutschen Bundestags 1972 erreichte Brandt einen fulminanten Sieg – er konnte das Vertrauen von 45,8 Prozent der Deutschen erringen, vor allem der Anteil der Jugend war überzeugend. Diese hieß seine Ostpolitik trotz des Radikalenerlasses, der kurz zuvor ergangen war, gut. 1973 besuchte Willy Brandt als erster deutscher Bundeskanzler Israel.
Unmittelbar nach der Wahl jedoch zeigten sich bei Brandt Abnutzungserscheinungen. Im Mai 1974 musste er seinen Rücktritt anbieten, da sein engster Mitarbeiter und Vertrauter im Kanzleramt, Günther Guillaume, als ostdeutscher Agent enttarnt worden war. Brandt hatte es der DDR nie vergessen, dass sie sein Vertrauen durch eine derartige Intrige missbraucht hatte. Historiker beurteilen die Guillaume-Affäre heute eher als Auslöser denn als Ursache für seinen Rücktritt, tatsächlich dürften eine gewisse Amtsmüdigkeit und Depressionen Brandts, auch wegen der parteiinternen Kritik an seinem unentschlossenen Führungsstil, der Grund gewesen sein.
Brandt blieb jedoch bis 1987 Vorsitzender der SPD, wohl auch um die innerparteiliche Opposition zu beruhigen. Zu seinem Nachfolger Helmut Schmidt pflegte er ein äußerst loyales Verhältnis, sympathisierte aber gleichzeitig mit dem linken Flügel der Partei, etwa in der Frage der Nachrüstung oder des Ausstiegs aus der Atomenergie. Nicht verhindern konnte er, dass die Grünen weiter Zulauf erhielten und ab 1983 im Bundestag vertreten waren.
1976 übernahm Willy Brandt den Vorsitz in der Sozialistischen Internationale, ein Jahr später präsidierte er auf Vorschlag des ehemaligen amerikanischen Verteidigungsministers Robert McNamara eine Nord-Süd-Kommission, die Vorschläge zugunsten der Dritten Welt ausarbeiten sollte. Dadurch stieg Brandts Ansehen in der ganzen Welt.
Brandt war ein überzeugter Europäer, der stets für eine Erweiterung eintrat, vor allem die Beteiligung Großbritanniens an der Europäischen Wirtschaftsunion war ihm ein Herzensanliegen. Es erfüllte ihn mit Stolz, nach 1979 dem ersten direkt gewählten Europäischen Parlament anzugehören.
In den 1980er-Jahren reiste er viel, auch im Auftrag der Sozialistischen Internationale. 1984 besuchte er Kuba und Fidel Castro, traf sich mit Deng Xiaoping und Michail Gorbatschow. 1990/1991 versuchte er vergeblich, den Ausbruch des Golf-Krieges zu verhindern.
Einen privaten Neuanfang machte Brandt 1983, als er in dritter Ehe die Historikerin und Publizistin Brigitte Seebacher heiratete. Von 1941 bis 1948 war er mit Carlotta Thorkildsen verheiratet gewesen, aus dieser Ehe stammte eine Tochter. Aus seiner zweiten Ehe mit der verwitweten Rut Bergaust waren drei Söhne hervorgegangen.
Eine persönliche Genugtuung bedeuteten dem Altkanzler die Ereignisse des Jahres 1989. Schon im Spätsommer dieses Jahres hatte er gemeint, dass die Politik der »kleinen Schritte« überholt wäre und die Deutschen selbstverständlich zusammengehörten. Am 10. November erklärte er in Berlin angesichts des Falles der Mauer: »Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört.«
1990 wiederholte er seine Reise nach Erfurt: Diesmal fuhr er in ein freies Land. Im selben Jahr wurde er nach den Wahlen Alterspräsident des deutschen Bundestages und nahm dort die Gelegenheit wahr, seinen Parteigenossen die Leviten zu lesen, vor allem in Richtung Oskar Lafontaine. Er ließ keinen Zweifel daran, dass es für ein geeintes Deutschland nur einen Regierungssitz geben könne, nämlich Berlin.
Brandts Leben umfasst das 20. Jahrhundert in all seinen politischen Höhen und Tiefen, als aktiver Politiker war er Kalter Krieger und Entspannungspolitiker, er war ein Mann, dem vieles glückte, der Entwicklungen intuitiv erfasste und seine Politik danach ausrichtete – nicht der große Theoretiker, der langfristige Konzepte verfolgte, sondern ein Politiker, der auch seinen Emotionen nachgab. Es war ihm vergönnt, einen wichtigen Beitrag zur Aushöhlung des kommunistischen Systems zu leisten, aber auch zur Aussöhnung der kritischen Jugend mit dem Deutschland der 70er- und 80er-Jahre.
Wirtschaft und Inneres waren nicht seine Politikfelder, seine Leidenschaft galt der Außenpolitik, eine Leidenschaft, die er mit seinem Freund, dem österreichischen Bundeskanzler Bruno Kreisky, teilte. Brandt war ein Mann der großen symbolischen Gesten, der einprägsamen Statements, wie: »Wir wollen mehr Demokratie wagen.« Das behielten die Menschen im Gedächtnis. Brandt engagierte sich, offerierte seinen Wählern Visionen, für die man sich begeistern konnte, auch wenn die Realität oft nachhinkte. Er war ein politischer СКАЧАТЬ